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Sechselauten

Sechselauten

Titel: Sechselauten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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Angst saß tief und unauslöschlich in
der Seele dieser Menschen. Sogar was den Jogg betraf, der sich
als Angestellter der Stadt um das Wohl der Fahrenden zu kümmern hatte; denn schließlich zahlten sie ja Miete. Waren Schweizer Staatsbürger. Aber auch ihm gegenüber waren die Koleg-
gers zurückhaltend, beinahe misstrauisch gewesen. Eschenbach sah zu, wie Meret Kolegger den Tisch deckte und aus der Kühlbox ein Abendbrot zauberte. Er überlegte, woher dieses Misstrauen kam und wie es sich anfühlte, nirgends zu Hause zu
sein.
    Eine Viertelstunde später traf plötzlich Polizei ein. Die Kollegen waren nicht zu überhören: Sirenengeheul und Blaulicht. Es war ein Einsatzwagen der Abteilung Sicherheit, mit Begleitfahrzeug. Insgesamt acht Männer, zählte Eschenbach.
    Kolegger eilte zur Tür. Aber es war zu spät. Die Polizisten hatten die Türe aufgestoßen, standen bereits im Flur.
    Latscho schrie auf, als er die Gestalten in Uniform sah, die mit vorgehaltener Waffe in die Wohnstube traten.
    »Abbruch!«, rief der Kommissar zornig in das Chaos. »Sofort aufhören!«
    Aber niemand nahm Notiz.
    Wie ein schwarzes Ballett operierte die Einheit weiter. ZweiMänner zerrten am Kleinen, der sich verzweifelt an Meret festklammerte.
    »Es wehrt sich doch niemand – verdammt.« Eschenbach hob die Arme.
    Josef und Rosa taten es ihm gleich. Nur Meret zögerte noch. »Latscho!«, schluchzte sie, dann ließ sie den Kleinen los.
    Der Junge hörte nicht auf. Er strampelte, biss in die fremden Hände, die ihn hielten, schrie immer wieder. Nach einer Weile, als ihm die Kraft auszugehen schien, sah er flehend zu Eschenbach.
    »Keine Angst, mein Kleiner«, sagte der Kommissar mit ruhiger Stimme. »Die tun dir nichts. Die wollen nur mit dir sprechen.«
    Latscho schüttelte den Kopf. Er sank in den Armen der Beamten zusammen und begann zu zittern. Ein Beben durchfuhr seinen Körper. Und aus den Tiefen seines Bewusstseins lösten sich plötzlich Worte: »Mulo, der lau Mulo«, sagte er und rollte dabei die Augen. »E schoflig Gaaschi mit Güschi het an der Mameere gschnifft. Het buugeret … und gufnet au mi Mameere. Hett öppis schüübis gschnifft. Mameere plötzligg Mooris beharcht und pufft … isch plotz Mameere … danuseret der Muhme … de Looli.«
    »Er spricht!«, rief Eschenbach. Der Kommissar, der die Szene mit einem unguten Gefühl beobachtet hatte, richtete sich nun an den Anführer der Einheit, einen großen, drahtigen Kerl mit schütterem Haar und Oberlippenbart, den er vom Sehen her kannte und dessen Name ihm einfach nicht in den Sinn kommen wollte. »Lassen Sie den Kleinen los, bitte! Lassen Sie ihn reden.«
    »Abführen!«, bellte der Große. Und zu Eschenbach sagte er halblaut: »Ich soll Sie von der Chefin grüßen. Sie hätten sich melden müssen, mit dem Jungen. Das wäre das Mindeste gewesen.«
    »Warten Sie doch«, protestierte der Kommissar.
    »Zu spät, Eschenbach.«
    Die Männer schleiften den Jungen nach draußen. Einer der Beamten blieb als Nachhut im Wohnzimmer, stand vor dem Ausgang wie ein sperriger Bock und wartete.
    Motorengeräusch ertönte.
    »Sie hören von uns«, sagte die Nachhut. Dann ging auch er.
    Eine bittere Stille hing im Raum.
    Eschenbach schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Langsam ging er auf Frau Kolegger zu, die still zu weinen anfing. »Es tut mir leid. Glauben Sie mir, ich werde mich drum kümmern.«
    »Gehen Sie, Herr Kommissar«, sagte der Alte. »Gehen Sie. Wir haben Ihnen nichts mehr zu sagen.«
    Es war ein bemerkenswert dürrer Monolog, den Rosa auf dem Heimweg von Zürich-Seebach nach Schwamendingen von sich gab. »Gelackmeiert und angeschmiert«, wiederholte sie mehrfach, und: »am Seil heruntergelassen«, das auch.
    Eschenbach sagte nichts. Apathisch blickte er über das Lenkrad geradeaus auf die Straße.
    Es hatte leicht zu regnen angefangen.
    Als sie vor dem Häuserblock hielten, in dem Rosa wohnte, presste der Kommissar seine Lippen zusammen und meinte: »Ich red mit ihr … dann werden wir’s ja sehen.«
    Rosa stieg aus, seufzte und ging. Auf halbem Weg entlang der Buchenhecke, bei den Briefkästen, drehte sie sich nochmals um und rief: »Schlafen Sie eine Nacht darüber, Kommissario. Bevor Sie zu ihr gehen, meine ich. Es ist wie mit dem Einkaufen, man sollte es nicht mit leerem Magen tun.«
    In Gedanken war Eschenbach bereits in Kilchberg. Er wollte nicht einkaufen – es ging ums Loswerden. Den ganzen Groll abladen und seiner Chefin richtig

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