Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sechselauten

Sechselauten

Titel: Sechselauten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
Vom Netzwerk:
geht und ich mich nicht mehr so konzentrieren muss, können wir uns weiter unterhalten.«
    Dösend hing der Kommissar seinen Gedanken nach. Er musste irgendwie zu Informationen kommen. Jetzt, auf dieser Fahrt. Denn spätestens in Zürich würde er Latscho und die Leute Jagmetti übergeben müssen. Und was dann passierte, war ungewiss. Vielleicht gelang es Rosa, den Jungen zum Sprechen zu bringen. Rosa konnte mit dem Jungen. Und es war richtig, dass sie und er sich die Aufgaben teilten; dass Rosa es bei Latscho probierte und er mit den Pflegeeltern sprach. Getrennt voneinander. Vielleicht gab es irgendwann auch Antworten.
    Es war kein Knattern und auch kein Rumpeln. Nur ein leichtes Kribbeln machte sich unter Eschenbachs Füßen bemerkbar. Pflastersteine? Der Kommissar richtete sich abrupt auf. »Mein Gott – Sie fahren ja die Tremola!« Eine einzige Haarnadelkurve hatte für diese Erkenntnis gereicht.
    Die alte Gotthardstrasse – kaum mehr als ein Säumerpfad. Vor über hundert Jahren hatte man sie aus Millionen von faustgroßen Steinen zusammengeschustert. Eine Meisterleistung damals – heute schien es Irrsinn. Verwegene Motorradfahrer nutzten die Straße im Juli und August. Aber mit dieser breiten Karre – Eschenbach fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Kehren Sie um.«
    »Wir fahren immer die Tremola«, sagte Kolegger. »Es gibt keine Möglichkeit, den Wagen zu wenden.«
    »Die Straße ist für den Verkehr noch gar nicht freigegeben …« Eschenbach fluchte. »Wenn wir Pech haben, liegt oben meterhoch Schnee.«
    »Ich hab Antischlupf«, kam es vom Alten. »Das ist modernes Zeug, um besser auf Schnee und Eis fahren zu können. Computergesteuert. Und Winterreifen haben wir auch.«
    »Unglaublich!« Eschenbach sah zum Fenster hinaus: Sein Blick folgte der Straße, die sich wie eine endlose Schlange, schmal und giftig, den Berg hinaufwand. Fassungslos ließ er sich zurück ins Polster fallen. Die Tremola, um diese Jahreszeit. Das Tessiner Straßenverkehrsamt wird den Schnee und die Geröllreste der Wintermonate noch längst nicht weggeräumt haben, dachte er. Was war bloß mit dem Alten los, war er übergeschnappt?
    Die spitzen Kehren setzten dem Kommissar zu. Er war es nicht gewohnt, hinten zu sitzen; zudem drückte Kolegger seinen silbergrauen Boliden den Berg hoch, als reite ihn der Teufel.
    An ein sinnvolles Gespräch war nun überhaupt nicht mehr zu denken. Kaum hatte Eschenbach eine Frage beisammen, schoss Kolegger auf die nächste Kurve zu, zog den schlingernden Wagen über Schnee und Eis nahe am Abgrund vorbei und murmelte etwas von Joe Siffert und dass es solche Rennfahrer heute leider nicht mehr gäbe. Eschenbach hielt sich am Griff über dem Fenster fest.
    Kolegger drehte die Heizung auf, steckte sich eine Parisienne an. Rauchte und fuhr. Und nachdem der Alte eine Zigarette ausgedrückt hatte, folgte die nächste.
    »Wenn es Nacht wird im Ticino«, sang Nella Martinetti im Radio. Eschenbach stand der kalte Schweiß auf der Stirn. Er schaffte es knapp über die lange Gerade auf der Passhöhe, vorbei am Hospiz und bis in die ersten Kurven auf der anderen Seite, die hinunterführten. Der Alte hatte auf die neue Gotthardstrasse gewechselt und setzte nun zu einem riskanten Überholmanöver an.
    »Halten Sie an!«, rief der Kommissar dem rasenden Kolegger zu. »Halten Sie sofort an!«
    In der dritten Kehre stand der Wagen still. Eschenbach stieg aus, hielt sich an der Leitplanke fest und übergab sich talwärts.
    Ein steifer Wind fuhr ihm in den Nacken, er schauderte. Nach einer Weile ging es besser. Einatmen, ausatmen. Vor ihm lag eine Einöde aus Steinen und grau gewordenem Schnee. Zwei Bergdohlen stritten sich in der Luft.
    Als sich der Kommissar wieder umdrehte, war der silbergraue Mercedes verschwunden. Eschenbach fluchte. Er blickte über die Leitplanke und sah, wie sich der Wagen weit unten durch die Kurven schlängelte.

12
    E ine halbe Stunde verging, und Eschenbach fror. Er hatte sein Jackett auf dem Rücksitz von Koleggers Mercedes liegenlassen – und was viel schlimmer war: sein Handy auch.
    Der Kommissar biss die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten. Hemd und Hose flatterten im eisigen Wind. Er probierte es mit Autostopp; stand einmal auf dieser, mal auf jener Seite der Straße.
    Zuerst war er froh gewesen, dass er nicht schon auf der Tremola hatte aussteigen müssen. Hier fuhren wenigstens Autos. Aber was nützte es ihm, wenn keines anhielt? Nicht einmal die Holländer mit den

Weitere Kostenlose Bücher