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Sechselauten

Sechselauten

Titel: Sechselauten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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sah den Anwalt an. Sein Gesicht zeigte kaum eine Regung. Kronenberger ging auf die siebzig zu. Mit seinem festen Kinn, den ebenmäßigen Gesichtszügen und seinem gebräunten Teint war er noch immer ein gutaussehender Mann.
    »Und was diesen Eschenbach von der Kantonspolizei angeht«, sagte er: »Der wird sich raushalten, dafür habe ich heute Morgen gesorgt.«
    »Aber es war doch ein Unfall …« Lara räusperte sich. »Ich meine, das mit Charlotte, ihr schwaches Herz, das weißt du doch. Sie hatte sich einen Defibrillator implantieren lassen. Es kann doch sein …«
    »Das ist es ja!«, unterbrach sie Kronenberger. »Weil sich der Depp auf sie draufgehockt hat. Das Gerät muss deshalb gestreikt haben, so ist es doch. Wir werden noch ein Gutachten machen lassen.«
    »Eben. Dann bleibe ich, bis alles geklärt ist.«
    »Das ist nicht nötig. Ich habe dir für heute Abend einen Flug gebucht. Randolph wird am Flughafen Heathrow auf dich warten.«
    »Nein, ich will bei der Beerdigung dabei sein.« Sie konnte nicht zurück. Nicht, ohne Genaueres über Charlotte erfahren zu haben. Zur Polizei konnte sie ja nach allem, was geschehen war, schlecht gehen. Aber Kronenbergers Blick blieb stur geradeaus gerichtet. »Wir werden Charlottes Leichnam nach London überführen lassen. Eine Bestattung in England ist überhaupt kein Problem.«
    Schließlich willigte Lara ein.
    »Am Abend, als du noch in Charlottes Wohnung warst …«, fuhr der Anwalt nach einer Weile fort. »Ich habe mir gedacht, vielleicht ist dir etwas aufgefallen?«
    »Was denn?«
    »Ich weiß nicht, irgendwas halt. Vielleicht hat sie was für dich dagelassen, oder sie hat dir was erzählt, bevor das alles passiert ist.«
    »Ich habe sie doch gar nicht mehr gesehen. Nein, nicht dass ich wüsste.« Nach einem kurzen Zögern schüttelte Lara den Kopf.
    »Nichts also.« Kronenberger schürzte die Lippen. Dann widmete er sich dem Sommelier und hieß den Château Palmer 1985 mit einem Nicken gut.
    Nach dem Essen mit Kronenberger, das in weiten Teilen schweigend verlaufen war, ging Lara zurück ins Hotel, packte ihre Sachen und nutzte die Zeit bis zu ihrem Abflug für einen Spaziergang entlang der Limmat. Sie ging langsam über die Rathausbrücke, atmete tief durch.
    Jackys Kalbskotelett lag ihr wie Blei im Magen.
    Die frische Brise, die vom See her wehte, tat ihr gut. Im Café Schober, im Niederdorf, trank sie einen Kamillentee und blätterte lustlos in der Schweizer Illustrierten . Die ganze Zeit über drehten sich ihre Gedanken um die Aufzeichnung über das Hilfswerk. Sie verstand einfach nicht, warum ihr Vater all das aufgenommen hatte. Seit wann wusste er davon, und war er damit einverstanden gewesen? Völlig mysteriös schien ihr auch, weshalb diese Unterlagen in Charlottes Besitz waren.
    Am Nachbartisch unterhielten sich zwei junge Frauen über die kommende Europameisterschaft. Die eine schwärmte für Italiens Luca Toni, die andere für Schwedens Ljungberg. Ebenso uneinig waren sie sich bei der Frage, was Abseits bedeutete.
    Erstaunlich, wie weit es der Fußball gebracht hatte, dachte Lara. Bis zur Unterhosenwerbung – und auf die Titelblätter der Modezeitschriften. Nicht schlecht für ein Spiel, das ein paar gelangweilte Totengräber erfunden hatten, als sie auf englischen Friedhöfen mit alten Schädeln herumkickten. Dass ihre Gedanken eine andere Richtung genommen hatten, sah sie als willkommene Ablenkung.
    »Fußball ist Ablenkung vom Unwesentlichen«, hatte ihr Vater immer gesagt, nachdem er in den sechziger Jahren damit begonnen hatte, die FIFA in geschäftlichen Dingen zu beraten. Und nach seinem plötzlichen Tod hatte Lara seine Arbeit weitergeführt. Sie hatte hautnah miterlebt, wie sich ein kleiner Verein schweizerischen Rechts zu einem Weltkonzern mauserte.
Irgendwann würde auch jede Tusse im Schober die elfte (von siebzehn) FIFA -Regeln korrekt kennen: »das Abseits«.
    Kurz nach vier ging Lara zurück ins Hotel. Ihr Magen hattesich noch immer nicht beruhigt, ebenso wenig konnte sie das Gefühl abschütteln, dass Kronenberger sie loswerden wollte. Einen Moment dachte sie daran, zu bleiben und die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Aber mit dem Unwohlsein stieg der Wunsch nach den eigenen vier Wänden. Und London lag schließlich nicht fern der Welt.
    Um sechs bestieg Lara die Maschine der SWISS , die knapp zwei Stunden später in Heathrow landete. Mehrmals hatte Lara die Tüte aus dem Fach vor ihr genommen. Kurz hatte sie sogar mit dem Gedanken

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