Sechselauten
die Meinung sagen.
Wohin brachte die Polizei einen völlig verstörten Achtjährigen? Der Kommissar wusste es nicht. Ebenso konnte er sich keinen Reim auf Koblers Vorgehen machen.
Es war doch Kilchberg? Eschenbach fiel auf, dass er die ganzen Jahre, seit Elisabeth Kobler das Kommando der Kantonspolizei übernommen hatte, nur ein einziges Mal bei ihr eingeladen gewesen war. Zu einem Grillfest, an einem der heißesten Abende im August. Ein Catering-Unternehmen hatte Würste gebraten; Lambchops und Entrecôtes, die sie auf Porzellantellern und mit Stoffservietten serviert hatten. Es war einer der ersten Anlässe gewesen, den er zusammen mit Corina besucht und bei der ersten Gelegenheit auch wieder verlassen hatte, um an einem lauschigen Platz am See, bei Mondlicht, nackt zu baden.
Seither mussten sicher zwölf Jahre vergangen sein.
Die Zeit heilt Wunden, sticht neue auf – wie gerade eben, und heilt sie wieder. Ein idiotischer Kreislauf, dachte der Kommissar.
Er entschied sich für den Weg über die Hardbrücke. Etwas später, weil die Weststrasse gesperrt war, stand er im Stau, sah zwei Jugendlichen zu, ungefähr in Kathrins Alter. Es war acht Uhr abends, und sie schienen bereits betrunken. Als der eine kotzen musste, filmte es der andere mit dem Handy. Ein ganz normaler Sonntagabend hatte begonnen.
Die Wut im Bauch ließ nach. Sie wich einem dumpfen Gefühl der Müdigkeit und Resignation. Auf der Badenerstrasse Richtung Stauffacher konnte ihn Kilchberg kreuzweise.
Eschenbach fuhr nach Hause.
14
D rei Tage nach dem Sechseläuten, am Donnerstag um halb eins, saß Lara Bischoff im oberen Teil des Sonnenberg, zu dem nur Mitglieder Zutritt hatten. Wie immer, wenn sie hoch oben am Zürichberg im kulinarischen Tempel der FIFA speiste, kümmerte sich Jacky Donatz persönlich um sie.
»Für eine Bouillon musst du nicht zu mir kommen, mein Liebes …« Der Patron schüttelte missbilligend den Kopf. »Ich mach dir ein kleines Kalbskotelett, damit du nicht ganz von den Rippen fällst.« Donatz tätschelte seine zwei Zentner Herzlichkeit, die er um die Hüften trug, und ging, ohne eine Antwort abzuwarten, zurück in die Küche.
Lara seufzte. Sie hatte schlecht geschlafen, und schon den ganzen Morgen war ihr unwohl gewesen. Seit sie Charlotte vor zwei Tagen identifiziert hatte, wollte ihr das Bild nicht mehr aus dem Kopf; wie ihre Schwester dagelegen hatte, im hellen Neonlicht des Obduktionssaals: Ihr entspanntes Gesicht hatte geleuchtet, wie weißer Onyx.
Es war nicht mehr Charlotte gewesen.
Während sie vom Gerichtsmedizinischen Institut zurück in die Stadt gefahren war, hatte sie an Thornton Wilder gedacht: The Bridge of San Luis Rey . Sie hatte den Text auf der Abdankungsfeier ihrer Eltern vorgelesen:
Es gibt ein Land der Lebenden und ein Land der Toten, und die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe. Das einzig Bleibende, der einzige Sinn.
Am späten Nachmittag hatte sie sich die Aufzeichnung ihres Vaters angehört, und ihr war, als habe er auf ebendieser Brücke gestanden und gerufen.
Um was ging es bei diesem Hilfswerk? Sie musste mehr darüber in Erfahrung bringen. Viel mehr. Doch Kronenberger hielt sie in Beschlag. Er hatte sie aus dieser unsäglichen Geschichte mit der Polizei rausgeboxt und ihr im Hotel Widder eine Suite organisiert. Was Latscho anging, da hatte er ihr zum Schweigen geraten. Er wollte sich darum kümmern. Lara war nicht wohl dabei. Aber Kronenberger schien ganz darauf versessen, diesem Eschenbach einen Denkzettel zu verpassen. Und da war es offenbar wichtig, dass sie nicht in der Schusslinie stand.
»Wartest du schon lange?« Es war die bekannte Stimme von Alexander Kronenberger. Der Anwalt setzte sich, blickte hastig in die Speisekarte und bestellte beim Kellner, der ihn an den Tisch begleitet hatte, das Karree vom Bündner Lamm. Dann wendete er sich Lara zu.
»Jacky will mich mästen«, sagte sie.
»Das wird dir guttun. Du siehst bleich aus.«
Der Anwalt bemühte sich wie immer. Nur, was ihre Fragen zu Charlotte betraf, da blieb er die Antworten schuldig.
»Und was deine Schwester angeht. Ich melde mich bei dir, sobald du in London bist.«
»Ich gehe nicht.«
Kronenberger legte die Hornbrille neben seinen Teller auf den Tisch. Einen Moment blitzten seine blauen Augen, nur kurz, bevor er seinen Blick senkte und in einem milden Ton fortfuhr: »Es ist jetzt wichtig, dass du verschwindest, Lara. Ich kann dir die Presse nicht länger vom Hals halten. Sie werden dich finden.«
Lara
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