Sechselauten
Papa, sie ist doch viel älter als ich … sie ist meine große Schwester.«
»Das spielt keine Rolle. Du bist aus einem anderen Holz. Charlotte ist nicht so stark wie du.«
Er hatte es ihr immer wieder eingebläut.
Aber Lara fühlte sich nicht stark. Nicht jetzt. Sie war ein kraftloser Haufen, zu nichts in der Lage.
Nur nicht bewegen, dachte sie. Ich bleibe einfach hier liegen … denke nichts. Nur beten, für mich und für Randolph. Und plötzlich wusste sie, dass auch der alte Mann tot war. Lara spürte es. Es war, als flöge das Leichte davon und ließe das Schwere zurück. Lara wollte weinen, aber auch das konnte sie nicht.
Als sie eine Weile ganz still dagelegen hatte, ließen die Schmerzen ein wenig nach. Langsam atmete sie etwas tiefer ein. Vorsichtig öffnete sie ihren Mund, die Lippen klebten.
Meine Zähne, dachte Lara. Sie versuchte ihre Zunge zu bewegen. Aber sie fühlte nichts. Mein Gott, lass mir wenigstens die Zähne. Lara erinnerte sich, wie sie als Kind durch den Hufschlag eines Ponys den Teil eines Eckzahns verloren hatte. »Mädchen, die reiten wollen, weinen nicht« war Vaters Tenor. Es war seine Art von Trost. Dass sie nachts trotzdem weinte, blieb ihr Geheimnis.
Jahre vergingen.
»Können Sie mich hören?« Es war eine weiche Stimme, direkt neben ihr. Lara konnte sie unmöglich ignorieren. Trotzdem sagte sie nichts.
»Können Sie sprechen?«
Lara wusste es nicht. Sie blinzelte wieder; öffnete und schloss die Lippen.
»Gut, gut«, sagte die Stimme.
Zweimal gut ist immer schlecht, dachte Lara.
»Ich gebe Ihnen jetzt eine Spritze gegen die Schmerzen.«
Die HCA-Hospital Group hatte in England Geschichte geschrieben. Lara Bischoff war im Advisory Board dieser privaten Klinikgruppe, beriet sie in finanziellen Angelegenheiten und unterstützte sie bei Akquisitionen. Um die öffentlichen Spitäler, angekettet am bürokratischen Moloch des National Health Care Systems, machten die Reichen und Wohlhabenden längst einen großen Bogen. Man ging ins Princess Grace und ins Wellington für ein neues Hüft- oder Kniegelenk. Für Prostataoperationen stand die Harley Street Clinic ganz oben auf der Liste. Wer Geld hatte, konnte es sich aussuchen.
Lara konnte nicht wählen. Auf ihrer Prioritätenliste stand nur der Schmerz. Sie zwang ihre Sinne, den Körper zu verlassen – den Körper, der ihr diese unsagbaren Schmerzen diktierte. Es interessierte sie nicht, dass ihr eigenes Leben in jenen, wie sie es nannte, »übermüdeten Händen unterbezahlter Assistenzärzte« lag. Es war ihr egal, wohin man sie fuhr. Wenn es nur nicht die Hölle war.
Lara wurde durch das Ghetto der Unfallaufnahme im University College Hospital geschleust. Auf einer Trage aus Aluminiumrohr ließ man sie eine Weile in einem Zimmer liegen, zusammen mit einem Fabrikarbeiter, der die ganze Zeit über schrie, weil ihm bis zu den Knien beide Beine fehlten. Irgendwann schob man sie in einen Operationssaal.
Als sie wieder aufwachte, war ihr übel. Sie lag im Bett. Der übliche Beutel mit Natriumchlorid hing über ihr, verbunden mit einem Schlauch, der in ihrer linken Armvene steckte. Wenigs-tens das war Lara vertraut. Man hatte sie wegen ihrer Stürze im Military-Reiten zweimal operiert.
Ihre Zunge fühlte sich immer noch wie betäubt an. Und doch, etwas stimmte nicht. Ihre Zähne! – es durchfuhr sie ein kalter Schauer. Mit den Fingern tastete sie ihren Mund ab. Überall spitze, scharfe Kanten. Kurze Stummel. Lara konnte sich kein genaues Bild machen. Sie spürte, wie der Schweiß aus ihr herausbrach. Ihr Gesicht! – Sie tastete mit den Händen über Verbandszeug, oder waren es Pflaster? Sie musste es sehen! Unendlich langsam begann sie sich aufzurichten. Auf der Bettkante hielt sie eine Weile inne. Kämpfte gegen den Schmerz und die aufkommende Angst.
Einen Spiegel, dachte sie. Ich muss es wissen!
Lara riss sich den Schlauch aus der Vene, setzte die Beine auf den Boden und ging. Einen Schritt, zwei Schritte … Es funktionierte, sie konnte gehen! Sie bewegte die Arme, auch das klappte. So schlimm war es nicht – nicht wirklich schlimm.
Wankend ging Lara auf den hellen Vorhang zu, der einen Teil des Raumes abtrennte. Sie hielt sich am Plastikstoff fest, schob ihn beiseite. Es war, wie sie vermutet hatte: eine kleine Waschgelegenheit, ein WC und – kein Spiegel! Lara starrte auf die zwei Schrauben, die in der Wand steckten. Man hat ihn entfernt, dachte Lara.
Langsam gaben ihre Beine nach, alles begann sich zu
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