Sechselauten
besser um Latscho kümmern müssen, das war’s. Und während der Kommissar die Scheiben gebratener Blutwürste in sich hineinschaufelte, fühlte er die ganze Last seiner verpassten Chancen. Was würde nun mit dem Kleinen geschehen? Ewig bewachen konnte man ihn nicht. Einen Moment dachte Eschenbach darüber nach, wie es wäre, wenn er den Kleinen adoptierte.
Aber Adoption ging nur, wenn man eine funktionierende Beziehung vorzuweisen hatte. Gefestigt und intakt. In geordneten Verhältnissen lebte – Eschenbach sinnierte über die Begriffe und merkte, dass er nichts davon zu bieten hatte.
Zwei verkorkste Ehen, eine verflossene Liebschaft mit einer Sechsundzwanzigjährigen und eine Tochter, die überrascht war, wenn er anrief. Die eine Nacht kürzlich mit Corina ließ zwar hoffen, aber was den Broterwerb betraf, da war sich Eschenbach nicht sicher, wohin ihn seine Suspendierung noch bringen würde. Beamte, die über Adoptionen zu entscheiden hatten, gaben ihreKinder anderswo in Obhut. Sie waren verantwortungsvolle Menschen.
Nur Gott schickte die Kleinen überallhin.
Der Kommissar köpfte ein hartgekochtes Ei und dachte nicht weiter darüber nach.
Es war ihr Parfüm, Eschenbach roch es im Gang. Und als er die Tür zu seinem Zimmer öffnete, war sie da.
Lara Bischoff saß auf dem Stuhl am Fenster und sah ihn fest an.
Eschenbach blieb mit den Krücken auf halber Strecke stehen.
Mit leiser, rauchiger Stimme sagte sie: »Im Frühstücksraum waren so viele Leute, da habe ich mich nicht getraut.«
Eschenbach wusste einen Moment nicht, was er erwidern sollte. »Ja«, meinte er. »Ja, das ist überhaupt kein Problem.«
Auf dem kleinen Tisch stand ein Laptop, aufgeklappt.
»Haben Sie gearbeitet?«, fragte der Kommissar.
»Ich habe Sie angelogen.« Eine kurze Stille hing im Raum. Dann sprach sie weiter: »Sie hatten recht. Ich kenne Latscho. Ich bin nicht nur seine Muhme … die Tante, wie Sie sagten. Latscho ist mein Patenkind.«
Eschenbach setzte sich aufs Bett. »Dann wissen Sie auch, wer der Vater ist? Wir kennen bisher nur die Mutter, Charlotte.«
»Nein. Charlotte hat es mir nie gesagt. So wie sie mir vieles anderes auch nicht gesagt hat. Kennen Sie das Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse?«
Eschenbach nickte halbherzig. Er war im Studium gewesen, als das Thema groß Schlagzeilen gemacht hatte.
»Ich habe eine Aufnahme. Offenbar hat mein Vater darüber nachgeforscht. Hören Sie selbst.«
Aus dem Laptop drang ein Rascheln. Dann hörte Eschenbach eine Stimme.
»Das ist mein Vater«, sagte Lara Bischoff. »Er unterhält sich mit jemandem. Ich kenne den Mann nicht. Aber so, wie es sich anhört, hat er für Vater Recherchen angestellt.«
Eschenbach erwiderte nichts. Als der zweite Mann zu sprechen begann und dann den Text vorlas, den er offenbar wie einen Bericht verfasst hatte, da stockte dem Kommissar einen Moment der Atem. Es waren nicht die traurigen Fakten rund um das Hilfswerk, die Eschenbach wie ein Gewitter durch den Kopf rauschten. Es war die Stimme.
»Woher haben Sie das?«
»Hören Sie zu, mein Gott. Ich sag’s Ihnen später.«
Eschenbach riss sich zusammen. Er hörte hin, auch wenn er in Gedanken ganz woanders war. Dieses Krächzen, das immer wieder mit einem Schluck Wasser heruntergespült wurde. Es war ihm so vertraut. Auch wenn die Aufnahme eine ältere zu sein schien und eine Menge Nebengeräusche zu hören waren. Die Stimme gehörte eindeutig Ewald Lenz.
»Und was wollen Sie jetzt tun?«, fragte Lara Bischoff, nachdem die Stimmen verstummt waren.
»Woher haben Sie das?«
»Charlotte hat es mir in einem Umschlag in der Wohnung hinterlassen. So, als hätte sie eine Vorahnung gehabt. Finden Sie das nicht komisch?«
»Weiß Kronenberger davon?«
»Nein. Ich habe ihm nichts erzählt. War so ein Gefühl, ich weiß auch nicht. Was haben Sie jetzt vor?«
»Ich muss an die frische Luft, um nachzudenken.«
An der Rezeption verlängerte der Kommissar sein Zimmer für eine weitere Nacht, dann gingen sie nach draußen. Sie schlenderten einmal um den Block und tranken in einem der kleinen Cafés an der Baker Street einen Tee. Der Kommissar war noch immer ganz benommen, ein klarer Gedanke nicht in Sicht. Als er weiter so beharrlich schwieg, übernahm Lara Bischoff.
»So wie es aussieht, muss Charlotte eines dieser Hilfswerk-Kinder sein«, sagte sie. »Können Sie sich das vorstellen? Kein Wunder, dass sie den Kontakt zu uns abgebrochen hat.«
»Haben Sie eine Ahnung, ob es noch weitere
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