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Sechselauten

Sechselauten

Titel: Sechselauten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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bin?«
    »Ich habe es geschätzt.«
    »Sie sind kein guter Lügner, Herr Eschenbach.« Es schwang ein wenig Belustigung mit. Aber die Lippen, um die sich der Verband wie ein Korsett spannte, gaben das Lächeln nicht preis.
    »Ich habe Fotos von Ihnen gesehen. Auf Pferden.«
    »Um mich geht es hier nicht«, sagte Lara Bischoff in einemTonfall, der wieder ernster wurde. »Charlotte hatte Probleme. Schon immer. Es gab Zeiten, da hat sie den Kontakt zu mir völlig abgebrochen. Und einmal … Das ist allerdings schon länger her, da hat auch der Präsident nicht gewusst, wo sie war.«
    »Sie meinen Ihren Vater?«
    »Meine Eltern sind schon lange tot. Ich meine den Mann, für den Charlotte gearbeitet hat.«
    »Den Präsidenten der FIFA ?«
    Lara Bischoff nickte. »Charlotte wollte nicht in England leben. Die Nähe zu unserer Familie … Irgendwie schienen wir für sie eine Belastung zu sein, seitdem sie wusste, dass sie adoptiert worden war.«
    »Kannte sie ihre wirklichen Eltern?«
    Lara Bischoff dachte lange nach. »Ich weiß es nicht, wir haben nie darüber gesprochen. Aber ich vermute, die Suche nach ihnen war der Grund, weshalb Charlotte eine Zeitlang nichts von sich hören ließ. Sie war wie vom Erdboden verschluckt … Ich habe mir damals große Sorgen gemacht. Und eigentlich konnte ich meine Schwester überhaupt nicht verstehen. Denn wissen Sie, meine Eltern haben Charlotte genauso geliebt wie mich. Auch wenn sie nicht ihr leibliches Kind war.«
    Eschenbach sah dem Kellner zu, wie er das Geschirr abräumte und für den Hauptgang neu auftischte. »Wissen Sie ungefähr, wie lange das her ist … Ich meine, dass Ihre Schwester verschwand?«
    »Ich war gerade dabei, mich in die Geschäfte meines Vaters einzuarbeiten … Das muss vor über neun Jahren gewesen sein. Ich dachte zuerst, es hätte mit Vaters Nachlass zu tun. Aber als Charlotte sich wieder gemeldet hat … Jedenfalls schien damals nichts in diese Richtung zu deuten.«
    »Damals?«
    Lara Bischoff schwieg.
    »Wurde Ihre Schwester nicht in demselben Maße begünstigt wie Sie?«
    »Ich glaube nicht, dass Sie die Erbangelegenheiten meiner
Familie etwas angehen.« Lara Bischoff hob ihr Kinn und sah dem Kommissar geradewegs in die Augen. »Warum erzähle ich Ihnen das überhaupt. Charlotte ist tot – ein Herzanfall. Ihr Kollege von der Pathologie, der hat das alles doch bestätigt … hat selbst gesagt, dass es so ist. Ein Unfall … Und es hat doch
keinen Sinn, wenn wir hier weitermachen. Wir mussten damit rechnen, dass es irgendwann passiert, wie bei einem Baum, der krank ist und eines Tages fällt.« Sie legte den Löffel beiseite,
obwohl sie von der Suppe kaum etwas gegessen hatte.
    »Wenn ein Baum daliegt, krank oder gesund – man sieht es ihm einfach nicht an, ob er selbst hingefallen oder umgerissen worden ist.« An dieser Stelle machte der Kommissar eine Pause. »Wie Sie wollen. Ich glaube nicht, dass es ein Unfall war.« An dieser Stelle machte der Kommissar eine weitere Pause und beobachtete sein Gegenüber.
    Immer wenn er Menschen befragte, ungezwungen wie jetzt oder manchmal auch während stundenlanger Verhöre, entging Eschenbach nichts. Er bemerkte das Zucken der Wimpern, das Grübchen in der Wange oder wie sich die Nase kräuselte, auch wenn sein Gegenüber schwieg – es waren diese kleinen Miniaturen der Mimik, die den Dialog aufrechterhielten. Er sah, ob seine Fragen etwas bewirkten, und spürte, wenn er einen wunden Punkt traf.
    Bei Lara Bischoff war es anders. Das unbewegliche Antlitz aus weißer Gaze gab nichts preis. Augen und Mund waren wie Scharten in Kerkermauern: Sie zeigten die Wahrheit dahinter nicht. Auch auf ihre Stimme konnte sich Eschenbach nicht verlassen. Sie klang nach den Kieferoperationen metallen, auf eine gewisse Weise wie gelähmt, und war erst dabei, sich langsam wieder zu bilden.
    Und trotzdem, trotz dieses Gerüsts aus Verbandsmaterial, das alles zu verdecken schien; die Puppe mit dem Stoffgesicht war ein Mensch. Eschenbach begann sich dahinter ein Gesicht vorzustellen. Das Gesicht einer schönen, verletzten Frau, das entfernte Ähnlichkeit mit dem Gesicht in den Zeitungen hatte.
    »Weshalb sind Sie so schnell nach London zurück? Sie hätten doch warten können, bis der Leichnam Ihrer Schwester freigegeben wird.«
    »Es ging mir nicht besonders.«
    »Und Latscho?«, fragte der Kommissar. Er rutschte mit seinem Stuhl näher an den Tisch heran und fixierte das Augenpaar gegenüber. »Der Kleine, der musste das

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