Sechselauten
plötzlich, wie durch einen Nebelschleier, erkannte er die Frau wieder, wie sie sich über ihn beugte und fragte: »Geht es? Brauchen Sie Hilfe?« Ihr Gesicht war schön, aber nicht makellos. Die Augenlider hingen etwaszu tief, als fehlten ihnen täglich zwei Stunden Schlaf, und über dem rechten Mundwinkel stand eine kleine Narbe, die – obwohl längst verheilt – noch immer mit ihrer Geschichte auftrumpfen wollte. Es waren die Gebrauchsspuren eines gelebten halben Lebens; kleine Fältchen, die man nur sah, wenn sie lachte oder weinte; oder wenn man ihr ganz nahe war, so nahe, wie er ihr gewesen war, damals in Wädenswil.
»Also dann«, sagte Lara und ließ die Schultern hängen. »Am Ende fallen mir immer tausend Dinge ein, und dann wird’s plötzlich knapp.« Sie ging einen Schritt auf Eschenbach zu, legte zögerlich ihre Hand an seine Wange: »Mach’s gut.«
»Du auch.«
Eschenbach drehte sich um und ging zum Schalter.
Während der Beamte hinter der Glasscheibe Pass und Bordkarte begutachtete, überlegte der Kommissar, warum er Lara nicht geküsst hatte. Wenigstens zum Abschied noch. Er blickte zurück, dorthin, wo sie gestanden hatte.
Sie war weg.
»Ist in Ordnung, Sie können gehen«, sagte der Mann. Nachlässig schob er Eschenbach die Dokumente zu.
NACHSPIELZEIT
Am Ende der regulären Spielzeit schmerzen die Beine und in den Lungen lodert das Feuer; dann kommt der harte Rest: die Nachspielzeit. Ein paar Minuten sind es, selten mehr als fünf. Man hat den Eindruck, sie sei früher kürzer gewesen. Nun hat sie sich entwickelt, die Kleine. Ist ein richtiges Biest geworden. Stiehlt den einen den Sieg und gibt Hoffnung den andern. Bringt alles durcheinander, wie ein ungebetener Gast kurz vor dem Lichterlöschen.
E ssen Sie nichts?«
Eschenbach sah in ein Gesicht voller Sommersprossen. »Ach so«, murmelte er. Vor ihm auf dem Klapptisch lag eine Plastikbox mit dem Logo der Fluggesellschaft, darin schimmerten ein kleines Sandwich und ein paar Blätter Salat.
»Sie waren ganz vertieft in Ihre Gedanken … da hab ich’s einfach hingestellt. Soll ich’s jetzt wieder mitnehmen?«
»Nein, lassen Sie nur, ich probier das mal.«
»Wir landen gleich.«
Eschenbach sah die junge Frau an. Sie hatte rotblondes Haar, und um ihre Schenkel spannten die Hosen in etwas zu kleiner Größe. »Dann nehm ich’s halt mit«, sagte er.
Das Sommersprossengesicht lächelte, und Eschenbach bediente sich aus dem Körbchen mit goldenen Schokoladentalern, das die Stewardess ihm entgegenstreckte.
Während er die Schokolade und das Sandwichpaket in seiner Reisetasche verstaute, dachte er an die CD mit der Aufnahme. Lara hatte ihm eine Kopie anfertigen lassen. Er würde damit zu Lenz gehen.
Der Alte hatte ihm einiges zu erklären.
»Klappen Sie bitte noch den Tisch hoch.«
Eschenbach klappte. In seinem Kopf krächzte die Stimme von Lenz. Es muss diese Akte noch geben, dachte der Kommissar. Sechshundert Kinder, die man ihren Eltern weggenommen und irgendwo untergebracht hatte. Wer waren sie?
Eschenbach sah aus dem Fenster hinaus, hinunter auf die Siedlungen im Osten von Zürich. Sie näherten sich der Landebahn, flogen über das Landwirtschaftsgebiet zwischen Bülach und Neerach. Auf den Feldern erkannte Eschenbach Leute. Vermutlich stachen sie Spargel, dachte er. Trennten den jungen Trieb von seiner Wurzel und brachten ihn irgendwohin.
Wie die Kinder der Fahrenden.
Unsanft setzte die Maschine auf und rollte noch eine Weile aus.
Zwei Jugendliche klatschten.
Der Kommissar nahm seine Reisetasche unter dem Sitz hervor und wartete. Er sah in der Außentasche seines Jacketts nach, ob die CD noch da war, und den Wollschal, der im Jackenärmel steckte, wickelte er sich zweimal um den Hals.
Ungeduldig zwängten sich die ersten Passagiere an ihm vorbei. Die Anzeigen an der Decke erloschen.
»Hier sind Ihre Gehhilfen«, sagte die junge Frau mit den Sommersprossen. »Wir haben auch Rollstühle, mit denen wir Sie vom Gate zum Ausgang bringen können.«
»Danke, es geht auch so«, sagte der Kommissar. Er stemmte sich hoch und machte sich auf den Weg.
Der Flughafen Zürich war eine Welt für sich. Die Aktiengesellschaft, die ihn betrieb, trug in aller Bescheidenheit den Namen UNIQUE , und wie in allen Welten, die von sich glaubten, einzigartig zu sein, leistete man sich auch dort eine eigene Polizei.
Organisatorisch war die Flughafenpolizei lediglich eine Abteilung der Kantonspolizei Zürich; so wie die Verkehrspolizei, die
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