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Sechselauten

Sechselauten

Titel: Sechselauten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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gefahren ist.« Die Frau tätschelte ihre Frisur und machte einen Schmollmund. »Dass die tot ist, habe ich erst später in der Zeitung gelesen. Man sagt mir ja nichts. Aber das hier …« Sie streckte Eschenbach einen weißblauen Stoffknäuel entgegen. »Das haben sie im Treppenhaus verloren. Gehört vermutlich dem Kleinen.«
    »Néne!«, rief der Junge. Er rannte auf die Frau zu, riss ihr das Ding aus den Händen und flüchtete sich wieder hinter Eschenbachs Rücken.
    »Na, also«, sagte Eschenbach. Er sah den Jungen an, der sich noch immer an ihm festhielt. »Dann ist das also dein Néne.« Der Kleine nickte, und zum ersten Mal sah der Kommissar, wie ein kleines Lächeln das finstere Gesicht erhellte.
    »Ist ein armer Bub, jetzt wo die Mutter tot ist«, meinte die Frau. Argwöhnisch betrachtete sie den Kommissar. »Sind Sie der Vater?«
    Eschenbach zögerte einen Moment. »Gewissermaßen«, sagte er.
    »Aha. Gewissermaßen ein schlechtes Gewissen, eh?«
    Eschenbach hatte sich bereits Richtung Haustür abgewandt, als die Frau hinter ihm her rief: »Warten Sie doch einen Moment.« Die Frau ging zurück in ihre Wohnung, und als sie kurz darauf wieder erschien, hielt sie einen Plastiksack in den Händen. »Also wenn Sie wirklich zur Familie … Ich meine, dann kann ich Ihnen die hier mitgeben.« Sie gab Eschenbach die Tüte. »Diese Jeans gehört Frau Bischoff, wär mir eh viel zu klein. Ist im Trockner gewesen, unten in der Waschküche. Ich hab die Taschen geleert. Eigentlich sollte man das ja vorher tun. War aber nur ein Zettel drin, den habe ich dazugelegt. Nicht, dass Sie denken, ich behalt was. Hab nicht gern Sachen, die nicht mir gehören.«
    Der Kommissar bedankte sich, und als sie draußen vor der Tür standen, fischte Eschenbach das Papierstück aus der Tasche. Es war eine Karte. Sie war zwei Mal gefaltet worden und durch das Waschen an den Kanten ausgefranst. Ein Rotkehlchen auf einem Weidenzweig, erkannte der Kommissar, als er das Papierstück sorgsam entfaltet hatte. Auf der Rückseite stand in blassem Blau, mit großer Handschrift:
    Wenn Du Mulo triffst – sag nichts!
    Lass es uns gemeinsam besprechen.
    Vertrau mir,
    Dein Vater
    Auf dem Weg von der Türgass Richtung See schwieg Eschenbach. Sie hatten sich getäuscht. Mulo bedeutete nicht tot,
wie Anna Lohl angenommen hatte. Hinter Mulo steckte ein Mensch.
    »Néne«, sagte Latscho, als sie durch die Fußgängerzone gingen. Und abgelenkt durch die kleine Freude des Jungen, erzählte Eschenbach von den Kuscheltieren, die seine Tochter früher gehabt hatte. Vielleicht würde sich Latschos Blockade durch das wiedergefundene Stofftier lösen, dachte er.
    Bei der Schiffsstation telefonierte Eschenbach mit seinem Kollegen Marco Näf von der Seepolizei. »Wenn du Zeit hast, dann schick uns doch rasch ein Boot«, meinte er. Danach rief er Rosa an. Eschenbach hatte seiner Sekretärin für die Zeit, die er in London war, seinen Wagen geliehen. Er bat sie, Latscho und ihn abzuholen. »Beim Bürkliplatz, in einer Stunde etwa.«
    Die Fahrt mit dem Schiff der Seepolizei zurück nach Zürich dauerte keine zwanzig Minuten. Latscho schien es zu gefallen. Auf einem Teil der Strecke durfte er das Steuer selbst in die Hand nehmen.
    Eschenbach saß auf der Backbordseite, eingewickelt in eine Wolldecke, und fröstelte. Noch einmal las er die Notiz, die in der Jeans gesteckt hatte. Wer zum Teufel war Mulo?

3
    L atscho isch mit em Schmiereflosch tschaant. Grandig und schüübis ischs gsii. Und gflüderet hets wie nilperisch …« Der Junge erzählte es Meret, noch bevor sie ihn umarmen konnte.
    »Kommen Sie doch bitte herein«, sagte Frau Kolegger höflich.
    Erleichtert sah Eschenbach zu Rosa, dann traten sie ein. Der Kommissar hatte einen weitaus frostigeren Empfang erwartet und war nun angenehm überrascht. Vielleicht war es die Freude darüber, dass Latscho wieder sprach, dachte Eschenbach. Denn Meret und Josef Kolegger machten einen überaus versöhnlichen Eindruck.
    »Er sagt, dass Sie mit dem Polizeischiff gefahren sind«, übersetzte Meret. »Ich glaube, es hat ihm mächtig Eindruck gemacht.«
    Eschenbach nickte. Und wie er sich in der ordentlichen Wohnstube umsah, hatte er die Bilder wieder vor sich, wie es bei seinem letzten Besuch gewesen war, als die Spezialeinheit der Polizei das Haus gestürmt und Latscho gewaltsam nach draußen gezerrt hatte.
    »Wollen wir uns nicht setzen?«, sagte Josef Kolegger. Er stellte zwei Bierdosen, eine Flasche Wein, Sirup und eine

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