Sechselauten
als sich Eschenbach nach dem Verschwinden des Jungen erkundigte. »Aber das habe ich doch schon alles zu Protokoll gegeben, mehrmals«, erklärte der Heimleiter. »Ich tue gerne meine Pflicht … aber der Fall ist abgeschlossen, haben Ihre Kollegen gesagt. Der Junge wartet schon.«
Gemeinsam gingen sie ums Haus in den großangelegten Garten. Alles schien liebevoll gepflegt, ohne herausgeputzt zu sein. Eine alte Fichte stand wie ein finsterer Wächter mitten in einer Naturwiese. Zwischen zwei Obstbäumen hatte man eine Hängematte angebracht, und auf einem kleinen, kunstvoll mit Steinen gesäumten Teich schwammen Seerosen. Dafür, dass hier Kinder spielten, war es auffallend ruhig.
Bangerter klatschte in die Hände: »Es gibt Kuchen«, rief er.
»Juhuii«, riefen ein paar.
Ein knappes Dutzend Kinder und Jugendliche zählte Eschenbach. Sie schienen älter als der Junge, nach dem er Ausschau hielt. »Ist er denn hier?«, fragte er.
»Dort hinten, neben dem Trampolin.«
Eschenbach machte ein paar Schritte, dann sah er ihn.
Der Kleine stand etwas abseits. Man hatte ihn in neue Kleider gesteckt: sandfarbene Cargohosen und eine dunkelblaue Fleecejacke. Er stand ganz still und starrte wie gebannt auf zwei Mädchen und einen Jungen, die auf der großzügigen Sprungfläche eines Trampolins herumhüpften.
Eschenbach setzte seinen Gang fort entlang alter, von Gras halb überwachsener Steinplatten. Auf halbem Weg blieb er mit einer Krücke in einem Grasloch stecken. Er fluchte laut.
»Psst!«, machte Bangerter. Aber es war zu spät. Ein halbes Dutzend Augenpaare richteten sich nun auf den Kommissar.
»Gopferdammi« und »Scheiße!«, riefen zwei Jungs, die an einem Tisch Mühle spielten. Noch ein paarmal wiederholten sie Eschenbachs Gefluche.
»Schissideckel!«, rief ein dritter.
Zwei Mädchen blieben zwischen »Himmel und Hölle« stehen und kicherten.
Bangerter klatschte wieder in die Hände. »So, so« und »jetzt aber«, mahnte er, dann sah er Eschenbach an. Es war dieser Sie-sind-mir-aber-ein-Vorbild-Blick, den der Kommissar nur zu gut kannte.
Das unsichtbare Gefüge, in dem die Kinder sich selbst genügt hatten, war zerstört. Die Aufmerksamkeit galt nun ganz ihm, dem Besucher, der so gotteslästerlich geflucht hatte.
Eschenbach winkte verlegen mit einer Krücke.
»Tut es weh?«, wollten die zwei Mädchen wissen, die herbeigeeilt kamen und seine Nase und den Gipsfuß mit sorgenvoller Miene betrachteten.
Latscho schien ihn nun auch erkannt zu haben. Er näherte sich langsam, bis er ungefähr zwei Meter vor Eschenbach stehen blieb und den Kommissar mit großen indigoblauen Augen anstarrte.
»Wir gehen zu Josef und Meret«, sagte Eschenbach ruhig.
Aber Latscho reagierte nicht. Eschenbach war, als blickte der Kleine durch ihn hindurch.
Andere Kinder kamen ebenfalls. »Wer bist du?«, fragte ein Mädchen. Eschenbach schätzte sie auf zehn oder elf und er erinnerte sich, dass Kathrin damals ähnlich ausgesehen hatte.
»Der Mann ist Polizist«, sagte Bangerter, und schon auf dem Weg ins Esszimmer löcherten ihn die Kinder mit Fragen über Fragen. Am langen Holztisch, bei Kuchen, Sirup und Kaffee schöpfte der Kommissar aus seinem Fundus phantasievoll angereicherter Halbtatsachen. Möge der Zweck die Mittel heiligen, dachte er. Zwischendurch nahm er sich ein Stück Kuchen, teilte es und gab die größere Hälfte Latscho, der sich stumm neben ihn hingesetzt hatte.
Es war kurz nach elf, als Frau Bangerter Eschenbach und den Jungen in einem alten Peugeot-Kombi den Berg hinunter zum Schiffssteg nach Stäfa fuhr. Die Frau des Heimleiters, die in Anwesenheit ihres Mannes kaum etwas gesagt hatte, wurde auf einmal gesprächig. Sie erzählte, dass sie seit über zehn Jahren in der Villa Waldisberg arbeite, dass die Arbeit mit jungen Menschen eine große Herausforderung sei und dass sie mit Elisabeth Kobler befreundet sei.
»Schon seit wir zusammen in die Pfadi gegangen sind«, sagte sie mit einem Schmunzeln. »Das Bethli und ich.« Dass Eschenbachs Chefin bei den Pfadfindern vulgo Gäggs geheißen hatte, erfuhr der Kommissar ebenso wie auch, dass Latscho nur aufgrund dieser wunderbaren Freundschaft einen Platz im Waldisberg bekommen hatte. »Eigentlich betreuen wir nur Spezialfälle, Kinder, die eine große Aufmerksamkeit beanspruchen. Risikofälle, sozusagen.«
Eschenbach bat die Frau des Heimleiters, sie am Schiffssteg abzusetzen. »Wir machen zum Abschluss noch eine Fahrt über den See«, sagte er. Nachdem er mit
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