Second Face
das Display. Die Nummer ihrer Mutter. Sie lässt es klingeln.
»Willst du nicht drangehen?«
Nur für einen kurzen Moment überlegt Marie, dann schüttelt sie den Kopf und schaltet das Handy aus. Sie hat jetzt keinen Nerv für neugierige Mutterfragen, die sie ohnehin nicht beantworten kann, ohne dass die Mutter vor Sorge durchdreht. »Was? Du bist alleine mit einem wildfremden jungen Mann am Strand? Den du seit gestern kennst? Bist du verrückt geworden, Marie? Geh sofort nach Hause!« Sie kann die Stimme der Mutter schon hören. Das würde nur allen das Wochenende verderben.
Marie lässt sich in den Sand zurückfallen und breitet die Arme aus, so als wolle sie die ganze Welt umarmen.
6
Es ist lange nach Mitternacht, als Marie über den dunklen Hof schleicht und dabei Sven in die Arme läuft, der auf dem Weg vom Stall zum Wohnhaus ist.
»Na, das nenne ich einen sechsten Sinn!«, sagt er überrascht. »Ich wollte dich gerade holen. Das Fohlen kommt.«
»Ich habe noch nie so etwas Schönes gesehen«, flüstert Marie zwei Stunden später und betrachtet das kleine verschwitzte Wesen, das erschöpft und nach Luft schnappend im Heu vor ihr liegt. Seine Mutter leckt es behutsam ab, bevor auch sie sich auf die Seite dreht und die Augen schließt. Es hat ein schwarzes Fell mit einem weißen Streifen auf dem Rücken. Das Fohlen ist nicht mehr als einen halben Meter hoch, weiß sind auch die Fesseln, als hätte es frisch gewaschene Socken an.
»Nun ab mit dir ins Bett, die Nacht ist schon fast vorüber«, sagt Sven und gähnt.
»Ich hab morgen nichts vor!«, sagt Marie und setzt sich ins Stroh neben das kleine Fohlen. »Ich bleib noch ein wenig bei ihm.«
Der alte Sven schaut sie etwas ratlos an. »Na, dieser Hof hat schon ewig keinen so pferdeverrückten Teenie mehr gesehen.«
Marie grinst. »Gab’s mal einen?«
»Ja, aber das ist schon ein paar Jahre her.« Ein Leuchten zieht über sein Gesicht. »Ein Junge, so in deinem Alter. Seine Eltern hatten ihre Pferde bei uns untergestellt. Und da sie keine Zeit hatten, war der Junge jeden Tag auf dem Hof. Er war ganz verrückt nach Pferden. In den Ferien hat er hierauf dem Hof gewohnt und sich im Stall ein Taschengeld verdient.«
»Und dann?«
»Dann haben seine Eltern die Pferde verkauft. Sie brauchten Geld für die Renovierung ihrer Pension. Er ist dann immer seltener gekommen und schließlich ganz weggeblieben. Jetzt müsste er so neunzehn sein.«
Marie hört nicht mehr, was Sven weitererzählt. Ihre Augen fallen zu, ihr Kopf sinkt zur Seite. Sie spürt auch nicht mehr, wie Sven eine Decke holt und über ihr ausbreitet.
Einige Stunden später wacht sie auf, als Lina, Svens Frau, ein Frühstückstablett vor sie hinstellt. Schlaftrunken wischt sie sich über die Augen.
Kakao, Brötchen, Marmelade und Honig.
»Ich habe deiner Mutter versprochen, dass du regelmäßig isst«, sagt Lina vorwurfsvoll. »Du hast gestern Abend schon nichts gegessen.«
Wenn die wüsste!, denkt Marie und kaut zufrieden auf ihrem Brötchen herum. Das schönste Picknick ever war das gestern. Marie ist einfach nur glücklich wie schon lange nicht mehr.
»Wie findest du ›Puk‹?«
»Puk?«
Marie kaut und zeigt mit dem Kopf auf das kleine Fohlen, das seine ersten Stehversuche macht. »Vater hat gesagt, ich darf den Namen aussuchen.«
»Na, dann sieh mal zu, dass du deinen Puk gut versorgst. Die Puke aus der Sage bringen Glück, wenn du sie gut behandelst, sonst kommt Unheil über die Familie.«
Nach dem Frühstück geht Marie zum Duschen ins Haus. Ihr Weg führt an den großen Eichen vorbei, die überall auf dem Grundstück stehen. An einem Ast baumelt ein dunklesEtwas. Marie geht neugierig näher. Und schreit erschrocken auf. Überall getrocknetes Blut. Auf dem Boden, am Ast …
»Is ’n alter Brauch, so ’ne Art Opferritus«, sagt eine lachende Stimme hinter ihr. Marie ist so geschockt, dass sie sich nicht mal wundert, warum Lirim auf dem Hof ist.
»Was ist das?« Noch nie hat sich Marie so vor etwas geekelt.
»Das ist die Nachgeburt. Man sagt, dass das Fohlen dann besonders gut wächst und seinen Kopf immer hoch trägt. Früher hat man hier auf den Zaunpfählen die Skelettschädel der Pferde aufgespießt, immer mit dem Gesicht weg vom Haus, damit sie die bösen Geister vertreiben.«
Marie verdreht die Augen. Blutige Hautfetzen in Bäumen, Pferdeschädel gegen Geister. Gut, dass Anne das nicht weiß. Dann würde sie auf der Stelle in Hamburg bleiben.
»Lust auf noch mehr Grusel
Weitere Kostenlose Bücher