Second Face
Haaren.
»Dann hat jemand deinen Kopf genommen und auf ein anderes Foto gepappt«, sagt Marie. »So ’ne Art Fotomontage!«
»Wer macht denn so was? Und wie kommt der in meinen Account? Der muss doch mein Passwort kennen.«
Wenn Marie sich schon gefürchtet hat, dass jemand ihr Geheimnis aus Second Life kennen könnte, so ist das hier der absolute Super-GAU! Im echten Leben! Alle Freunde auf ihrer Kontaktliste können diese Nacktfotos sehen.
»Scheiße, scheiße, scheiße! Ist das peinlich! Und alle werden denken, ich bin das!« Anne fängt an zu weinen.
»Weg mit den Fotos!« Mit einigen Mausklicks hat Mariealle Fotos auf Annes Account gelöscht. Aber wer weiß, wie viele sie schon runtergeladen haben und sie jetzt überall herumzeigen. Ein wenig hilflos legt Marie den Arm um Anne.
Der unbekannte Täter hat eine ganze Serie dieser nackten Person mit Annes Kopf darauf ins Netz gestellt. Auch Marie fühlt sich angegriffen, denn wer nicht genau hinschaut, kann die Zwillinge verwechseln.
Das Internet hat ein Elefantengedächtnis. Was einmal darinsteht, ist kaum mehr zu löschen. Das ist auch so ein schöner Lehrsatz aus dem Informatikunterricht. Bislang reine Theorie und nun auf einmal schreckliche Wirklichkeit. Die Nacktfotos werden für alle Zeiten durch das Internet geistern.
»Ist Kai noch in deiner Kontaktliste?«
Anne nickt. »Klar doch, der sollte doch sehen, wie glücklich ich bin, ohne ihn.«
Erst jetzt versteht Marie, was Anne mit der ganzen Lirim-Aktion wirklich wollte. Sie hat auch Fotos von Lirim auf dem Surfbrett hineingestellt, weil sie wusste, dass Kai sie sehen würde. Die Botschaft von Anne an Kai: Sieh her, auch ich amüsiere mich und habe meinen Traumprinzen gefunden und der heißt nicht Kai.
Ganz blass ist Anne geworden, als sie die Kontaktliste aufruft und die Namen durchgeht. Alle auf dieser Liste werden sie so sehen.
Und selbst wenn sie schreibt, dass sie es nicht ist, dass es eine Montage ist, wer wird ihr glauben? Soll sie schreiben, sie sieht nackt gar nicht so aus? Das würde alles nur noch schlimmer machen. Kai würde sich totlachen.
Die ersten Kommentare sind auch schon da. Die Freundinnen reagieren eher vorsichtig, verwundert; die Jungen dagegen werden sehr deutlich, machen sich einen Spaß aus der Sache: «Biste jetzt ganz verrückt geworden auf deiner Insel?«, schreibt Bernd, ein ehemaliger Klassenkamerad.
»Ich hätt gern ein Foto: Anne nackt auf Pferd!«, schreibt ein anderer.
Die Fotos stehen seit sechs Stunden im Netz, entsprechend viele Kommentare sind bereits abgegeben worden.
»In Hamburg kann ich mich nie wieder blicken lassen. Ich bin tot!« Kreidebleich und am ganzen Körper zitternd studiert Anne jeden Kommentar.
Auch Kai hat sich gemeldet. »Tolle Fotos! Gratuliere! Hat dein Traumprinz Lirim die Fotos gemacht? Möchte er deinen Knackarsch mit uns allen teilen? Netter Kerl! Grüß ihn von mir!«
Da bricht Anne weinend zusammen. Sie weint und schluchzt und kann sich nicht beruhigen.
20
Am nächsten Morgen weigert sich Anne zur Schule zu gehen.
»Mir ist schlecht. Ich habe Bauchschmerzen und Kopfschmerzen und … alles tut weh!«, jammert sie, als Marie den Kopf durch die Tür steckt und Anne noch im Bett vorfindet. »Alle haben es gesehen und alle werden lachen. Ich gehe nicht in die Schule. Nie wieder.« Sie zieht die Decke über den Kopf.
Marie setzt sich an das Bett der Schwester und zieht ihr die Decke vom Kopf. »Gelesen haben es doch nur deine Freunde. Die dich gut kennen. Und denen kannst du erzählen, dass es ein Fake ist. Niemand wird glauben, dass du mit Absicht solche Fotos ins Netz stellst. Ich meine, so dumm ist doch keiner.«
Aber Anne bleibt dabei: In die Schule geht sie nicht, zumindest heute nicht.
Die Mutter ist der gleichen Meinung, obwohl sie die wahre Ursache nicht kennt. Aber da ihre Zwillinge selten krank sind, nimmt sie es besonders ernst, wenn es dann doch einmal passiert. »Nun lauf schon los, Marie! Du verpasst noch den Bus!«, sagt sie. »Anne hat sich wohl einen Virus eingefangen. Es ist besser, sie kuriert sich aus.«
Anne zieht sich wieder die Decke über den Kopf.
An diesem Morgen verpasst Marie tatsächlich ihren Bus. Aber darüber ist sie ganz froh. Mitten in der zweiten Stunde kommt sie in der Schule an und geht durch die leeren Gänge in ihre Klasse.
»Anne ist krank«, sagt sie auf die Frage des Lehrers.
»Das wäre ich auch an ihrer Stelle!«, ruft Sven durch die Klasse.
»Ach was, krank! Die stellt noch’n
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