Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
Vom Netzwerk:
auswendig. Der vierte Traum von Vera Pawlowna … (Er zitiert ihn wie ein Gedicht.) »Häuser aus Kristall und Aluminium … Kristallpaläste! Zitronen- und Orangenhaine mitten in den Städten. Es gibt kaum alte Menschen, die Menschen altern sehr spät, weil das Leben so schön ist. Alles erledigen Maschinen, die Menschen steuern sie nur … Maschinen mähen und binden das Getreide … Die Äcker sind fett und ertragreich. Blumen, so groß wie Bäume. Alle sind glücklich. Fröhlich. Sie sind schön gekleidet – Männer wie Frauen. Sie führen ein freies Leben der Arbeit und des Genusses. Es gibt viel Platz für alle und genügend Arbeit. Sind das wirklich wir? Ist das wirklich unsere Erde? Und alle werden so leben? Die Zukunft ist hell und schön …« 16 Da … (Er nickt zu seinem Enkel hinüber.) Er lacht … Für ihn bin ich ein Dummkopf. So leben wir zusammen.
     
    » Dostojewski lässt seinen Helden der Aufzeichnungen aus dem Untergrund sinngemäß sagen: Baut ihn nur, euren Kristallpalast, und dann komme ich und werfe einen Stein darauf … Nicht, weil ich hungrig bin und in einem Kellerloch lebe, nein, einfach so – aus Mutwillen …«
     
    (Er wird wütend . ) Sie glauben, der Kommunismus … diese Pest, wie sie heute in den Zeitungen schreiben, der wäre in einem verplombten Waggon aus Deutschland zu uns gekommen? Was für ein Unsinn! Das Volk hat sich erhoben. Das »Goldene Zeitalter« unterm Zaren, von dem heute alle reden, das hat es nicht gegeben. Das sind Märchen! Auch, dass wir ganz Amerika mit Getreide versorgt und die Schicksale Europas bestimmt hätten. Gestorben ist der russische Soldat für alle, das ist wahr. Aber das Leben … In unserer Familie gab es für fünf Kinder nur ein Paar Schuhe. Wir aßen Kartoffeln mit Brot, im Winter ohne Brot. Nur Kartoffeln … Und ihr fragt: Woher kamen die Kommunisten?
    Ich erinnere mich an so vieles … Aber wozu? Wozu … hm? Was soll ich mit diesen Erinnerungen? Wir liebten die Zukunft. Die Menschen der Zukunft. Wir stritten darüber, wann diese Zukunft anbrechen würde. In hundert Jahren ganz bestimmt. Aber das erschien uns zu weit weg … (Er atmet schwer.)
     
    Ich schalte das Diktiergerät aus.
     
    Ohne Diktiergerät … Gut … Irgendwem muss ich das erzählen …
    Ich war fünfzehn Jahre alt. Auf Pferden. Betrunken. Kamen sie in unser Dorf geritten, Rotarmisten. Ein Prodotrjad. Sie schliefen bis zum Abend, und am Abend holten sie alle Komsomolzen zusammen. Der Kommandeur hielt eine Rede: »Die Rote Armee hungert. Lenin hungert. Und die Kulaken verstecken Getreide. Verbrennen es.« Ich wusste, dass Mamas leiblicher Bruder … Onkel Semjon … dass er Säcke voll Korn in den Wald gebracht und dort vergraben hatte. Ich war Komsomolze … Hatte ein Gelöbnis abgelegt. In der Nacht ging ich zu den Rotarmisten und führte sie zu der Stelle im Wald. Sie beluden ein ganzes Fuhrwerk. Der Kommandeur drückte mir die Hand: »Werde schnell groß, Bruder.« Am Morgen erwachte ich vom Schrei meiner Mutter: »Semjons Hütte brennt!« Onkel Semjon haben wir dann im Wald gefunden … die Rotarmisten hatten ihn mit Säbeln in Stücke gehackt … Ich war fünfzehn Jahre alt. Die Rote Armee hungert … Lenin … Ich traute mich nicht mehr hinaus. Ich saß in der Hütte und weinte. Meine Mutter hat alles erraten. In der Nacht drückte sie mir einen Leinensack in die Hand: »Geh weg, mein Sohn! Möge Gott dir Unglücklichem verzeihen.« (Er schlägt die Hände vor die Augen. Aber ich sehe trotzdem, dass er weint.)
    Ich will als Kommunist sterben. Das ist mein letzter Wunsch …
     
    In den neunziger Jahren habe ich nur einen Teil dieser Beichte veröffentlicht. Mein Protagonist hatte den Text jemandem zum Lesen gegeben, sich beraten und sich überzeugen lassen, dass eine vollständige Veröffentlichung »einen Schatten auf die Partei« werfen würde. Und das fürchtete er am allermeisten. Nach seinem Tod wurde sein Testament gefunden: Seine große Dreizimmerwohnung im Stadtzentrum vererbte er nicht seinen Enkeln, sondern »der geliebten Kommunistischen Partei, der ich alles verdanke«. Darüber wurde sogar in der lokalen Abendzeitung geschrieben. Eine solche Tat war schon damals unverständlich. Die Leute lachten über den verrückten alten Mann. Auf seinem Grab steht bis heute kein Grabstein.
    Jetzt habe ich entschieden, seine Geschichte vollständig zu veröffentlichen. Das alles gehört bereits mehr der Zeit als einem einzelnen Menschen.
     
     
    XXII

Weitere Kostenlose Bücher