S.E.C.R.E.T. 1
sie und deutete unter den Tisch.
Ich bückte mich und hob ein kleines, weinrotes Notizbuch auf. Es sah ziemlich abgenutzt aus, und das Leder fühlte sich so weich an wie menschliche Haut. Auf dem Einband prangten die in Goldschrift geprägten Initialen PD , die Seiten waren mit Goldschnitt verziert. Zögernd öffnete ich das Buch auf der ersten Seite, um nach Paulines Adresse oder Telefonnummer zu suchen. Dabei erhaschte ich einen zufälligen Blick auf den Inhalt: » … sein Mund auf mir … nie habe ich mich so lebendig gefühlt … es durchfuhr mich wie weißglühende Hitze … es übermannte mich in Wellen, zog mich hinab wie ein Strudel … er beugte meinen Körper nach hinten …«
Hastig schlug ich das Notizbuch zu.
»Vielleicht kriegen Sie sie ja noch«, überlegte die Frau am Nebentisch laut, während sie langsam auf ihrem Teilchen herumkaute. Ihr fehlte ein Vorderzahn.
»Ist wahrscheinlich zu spät«, antwortete ich. »Ich werde … es einfach sicher verwahren. Sie kommt ja häufig her.«
Die Frau zuckte die Achseln und riss ein weiteres Stück von ihrem Croissant ab. Ich stopfte das Notizbuch in meine Kellnerinnentasche und schauderte vor Erregung.
Während der restlichen Schicht, bis Tracina mich ablöste – umgeben von einer ungeduldigen Aura aus Kaugummiblasen und mit Korkenzieherlocken, die in ihrem hohen Pferdeschwanz wippten –, fühlte sich das Notizbuch in meiner Bauchtasche geradezu lebendig an. Zum ersten Mal seit Langem kam mir New Orleans im Dunkeln nicht mehr ganz so einsam vor.
Auf dem Nachhauseweg zählte ich die Jahre. Sechs waren es, seit Scott und ich von Detroit hierhergezogen waren, um noch mal von vorn anzufangen. Die Häuser hier waren billig, und Scott hatte gerade schon wieder einen Job in der Automobilbranche verloren. Wir beide glaubten, dass eine S tadt, die nach dem Hurrikan neu aufgebaut werden musste, eine gute Kulisse für eine Ehe war, die das Gleiche anstrebte.
Wir fanden ein süßes, kleines blaues Häuschen an der Dauphine Street in Marigny, wo sich auch andere junge Leute ansiedelten. Ich hatte das Glück, einen Job als Tierarzthelferin in einem Tierheim in Metairie zu finden. Aber Scott verlor gleich mehrere Stellen auf den Ölplattformen. Und dann machte er zwei nüchterne Jahre zunichte, indem er eine durchzechte Nacht in ein zweiwöchiges Gelage verwandelte. Nachdem er mich nach den bewussten zwei Jahren zum zweiten Mal geschlagen hatte, wusste ich, dass es vorbei war. Plötzlich, nachdem seine betrunkene Faust zum ersten Mal in meinem Gesicht gelandet war, wurde mir klar, wie viel Anstrengung es ihn gekostet haben musste, mich nicht zu verprügeln. Ich bezog also die erstbeste Einzimmerwohnung ein paar Häuserblocks weiter.
Ein paar Monate später rief Scott eines Abends an und fragte, ob ich ihn im Café Rose treffen wollte, damit er sich für sein Verhalten entschuldigen konnte. Ich ließ mich darauf ein. Er behauptete, mit dem Trinken aufgehört zu haben, und zwar diesmal endgültig. Aber seine Entschuldigungen klangen hohl, und sein Verhalten war immer noch herzlos und defensiv. Nach dem Essen war ich den Tränen nahe. Ich saß mit gesenktem Kopf vor ihm, während er ein paar letzte, aggressive »Sorrys« hervorstieß.
»Ich meine es wirklich ernst. Ich weiß, dass es nicht so klingt, aber in meinem Herzen, Cassie, verfolgt mich das, was ich dir angetan habe, jeden Tag. Ich weiß nicht, was ich anstellen soll, damit du darüber hinwegkommst«, sagte er. Dann stürmte er hinaus.
Natürlich ließ er mich mit der Rechnung sitzen.
Auf meinem Weg nach draußen entdeckte ich, dass eine Kellnerin für die Mittagsstunden gesucht wurde. Ich hatte schon länger darüber nachgedacht, meinen Job in der Tierklinik aufzugeben. Dort kümmerte ich mich um die Katzen und ging während der Nachmittagsschicht mit den Hunden Gassi. Aber für die von Hurrikan Katrina geschaffenen Streuner fanden sich weder Herrchen noch Frauchen, weshalb es meine Hauptaufgabe war, gesunden Tieren eines der mageren Beine zu rasieren, um sie für die Einschläferung vorzubereiten. Ich hasste diese Arbeit mit jedem Tag mehr. Ich hasste es, in die traurigen, müden Augen der Hunde zu schauen. An diesem Abend schrieb ich also eine Bewerbung fürs Rose und brachte sie dort vorbei.
Am gleichen Abend wurde die Straße in der Nähe der Parlange Plantage überflutet, Scott fuhr sein Auto über eine Absperrung in den False River und ertrank.
Ich fragte mich damals, ob es ein Unfall oder
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