See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)
Papierumschlag. Beides war im Gegensatz zu allen anderen Unterlagen nicht beschriftet.
Tess runzelte die Stirn, während sie den Umschlag öffnete. Sie fragte sich, was er enthalten könnte. Als sie den Inhalt herauszog, stockte ihr der Atem.
Es waren Fotos von Joannas Leiche.
Schlagartig wurde Tess übel. Sie stöhnte auf und presste die Hand vor den Mund, um sich nicht übergeben zu müssen. Dennoch starrte sie weiterhin auf die grausamen Bilder. Sie schaffte es einfach nicht, den Blick abzuwenden. In allen Einzelheiten war darauf festgehalten worden, wie man Joanna vorgefunden hatte. Ihr Gesicht kam Tess noch blasser vor als in ihrer Erinnerung, aber die leeren, blicklosen blauen Augen waren genauso, wie sie sie nach dem Mord Nacht für Nacht vor sich gesehen hatte. Auch das viele Blut fehlte nicht. Jedoch sah es im Blitzlicht der Kamera eher schwarz als rot aus.
Das müssen die offiziellen Polizeifotos sein, überlegte Tess, als sie die kleinen Schilder mit durchgehender Nummerierung entdeckte, die neben einzelnen Beweisstücken aufgestellt worden waren. Sie fragte sich, wie ihre Tante zu den Fotos gekommen war. Normalerweise waren die Bilder doch streng unter Verschluss.
Ihr Blick fiel auf ein Foto des großen Küchenmessers, mit dem Joanna erstochen worden war. Es hatte einen schwarzen, genieteten Kunststoffgriff und eine lange Klinge. Tess schauderte. Die Klinge war voller Blut, das an den Rändern bereits zu trocknen begonnen hatte und eine hässliche, braun-schwarze Kruste bildete.
Es gehörte ihrer Tante Ellen. Tess hatte es selbst zu dem Picknick mitgenommen. Sie erinnerte sich, dass sie noch kurz vor dem Mord damit einen Apfel in Spalten geschnitten hatte. Eigentlich hätten daher ihre Fingerabdrücke auf dem Griff sein müssen, aber der Täter hatte ihn sorgfältig abgewischt. Auch Jareds Fingerabdrücke waren darauf nicht gefunden worden. Ein Punkt, den Ellen immer als Hinweis dafür gewertet hatte, dass er nicht der Täter gewesen war.
Kurz dachte Tess daran, was wohl passiert wäre, wenn sie das Messer nicht mitgenommen und das Obst schon zu Hause in Stücke geschnitten hätte. Aber sie verwarf den Gedanken gleich wieder. Es änderte nichts, darüber zu spekulieren. Was passiert war, war passiert. Und nichts konnte Joanna wieder lebendig machen.
Flink blätterte sie die restlichen Fotos durch und verstaute sie dann gleich wieder in dem braunen Umschlag. Den Anblick wollte sie sich nicht länger antun als unbedingt nötig.
Dann wandte sie sich dem Ordner aus der Schublade zu. Mit einem mulmigen Gefühl schlug sie den Ordnerdeckel auf. Sie befürchtete, darin noch mehr über den Mord an Joanna zu finden.
Ihre Vorahnung bestätigte sich schon beim ersten Blick auf den Inhalt. Den vorderen Teil des Ordners füllten Kopien der Ermittlungsakte. Tess blätterte die ersten Seiten durch und schüttelte fassungslos den Kopf. Woher hatte ihre Tante die Unterlagen? Sie war sich sicher, dass sie nicht öffentlich zugänglich waren. Irgendjemand aus dem Büro des Sheriffs musste ihr die Akte heimlich zugespielt haben, aber wer?
Tess kniff die Augen zusammen. Sie hatte da so einen Verdacht. Ellen war früher recht gut mit Ruth Montgomery befreundet gewesen, die als Sekretärin im Büro des Sheriffs arbeitete. Vielleicht hatte sie ihrer Freundin die Akten heimlich kopiert und zugespielt. Später hatten die beiden sich dann ebenfalls zerstritten, doch das war erst Monate nach dem Mord gewesen.
Aber eigentlich war momentan auch nicht wichtig, woher die Unterlagen kamen, sondern was Tess damit machte. Einen Moment lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück und überlegte. Sollte sie die Akte wirklich lesen? Natürlich nagte eine gewisse Neugier an ihr. Sie wollte wissen, was genau die Ermittlungen ergeben hatten. Andererseits hatte sie Angst davor, wieder mit allen Einzelheiten von Joannas Tod konfrontiert zu werden. Die alten Wunden hatten gerade begonnen, wenigstens oberflächlich zu heilen. Die Informationen aus diesem Ordner würden sie mit Sicherheit wieder aufreißen.
In einem Punkt allerdings war Tess sich ganz sicher: Wenn sie den Ordner jetzt wieder weglegte, ohne in ihm gelesen zu haben, würde sie niemals zur Ruhe kommen.
Also seufzte sie kurz auf, dann beugte sie sich wieder nach vorn und begann zu lesen.
8. Kapitel
Kate Reynolds hatte an diesem Tag früher Feierabend gemacht als sonst. Während des Nachmittags war nicht viel los gewesen, also hatte sie direkt nach Schalterschluss die
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