See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)
diesen schrecklichen Ort zurückkehren, hatte sie sich damals geschworen. Doch da hatte sie sich wohl gründlich geirrt.
»Naja, fast sieben Jahre hast du immerhin durchgehalten«, murmelte sie sich selbst mit leisem Sarkasmus in der Stimme zu. Nicht zum ersten Mal in den letzten zehn Tagen fragte sie sich, was ihre Tante damit bezweckt hatte, sie als Alleinerbin einzusetzen. Sicher, nach Ellens Meinung war Jared tot und Tess damit ihre einzige Verwandte, die noch am Leben war, aber war das der einzige Grund für Ellens Entscheidung gewesen? Hatte sie es einfach nur gut gemeint oder steckte dahinter eine bestimmte Absicht?
Aber auch dieses Mal fand Tess keine plausible Antwort. Sie hoffte inständig, dass es eine letzte Geste von Ellen zur Versöhnung gewesen war. Doch sie bekam die Idee nicht aus dem Kopf, dass Ellen genau das bezweckt hatte, was jetzt passierte: dass Tess sich mit ihren Ideen zum Mord an Joanna auseinandersetzte.
Tess stand auf und streckte sich. Dabei stellte sie erstaunt fest, dass es schon dämmerte. Wie lange hatte sie jetzt über den Akten gesessen? Sie warf einen prüfenden Blick auf ihre Uhr. Es waren tatsächlich über fünf Stunden gewesen. Kein Wunder, dass ihr die Augen und der Rücken wehtaten. Sie beschloss, sich eine Kleinigkeit zu essen zu machen und dann erst weiterzulesen. Eine Stärkung würde ihr sicher gut tun.
Etwas ratlos stand sie ein paar Minuten später in Ellens kleiner Küche und starrte in den beinahe leeren Kühlschrank. Immerhin fand sie einen Becher Joghurt, den sie aus San Francisco mitgebracht hatte, und einen noch einigermaßen essbaren Apfel. Zusammen mit ein paar Haferflocken aus Ellens Vorratsschrank ergab das ein fast erträgliches Abendessen.
Aber morgen muss ich unbedingt ein paar Vorräte einkaufen, dachte Tess und schnitt eine Grimasse. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, auf Joannas Eltern zu treffen. Aber da sie das einzige Lebensmittelgeschäft in Shadow Lake betrieben, führte wahrscheinlich kein Weg daran vorbei. Früher oder später würde sie ihnen begegnen. Zudem, dachte Tess, war eine Konfrontation mit Joannas Eltern unausweichlich, wenn sie sich wirklich ihrer Vergangenheit stellen wollte.
Erstaunlicherweise waren ausgerechnet die Millers besonders verständnisvoll gewesen, was Tante Ellens wilde Theorien anbetraf. Erst als Ellen begonnen hatte, sogar Joannas Eltern zu verdächtigen, etwas mit dem Tod ihrer Tochter zu tun zu haben, hatten die Millers jeden Kontakt abgebrochen und sich sogar geweigert, ihr etwas in ihrem Laden zu verkaufen.
Tess schüttelte den Kopf, um die unerfreulichen Gedanken zu vertreiben. Dann setzte sie sich wieder an den Schreibtisch.
Nach ein paar Minuten hatte sie die restlichen Seiten der Ermittlungsakte durchgelesen. Es waren nur noch unwichtige Aussagen von Zeugen gewesen, die keine neuen Informationen liefern konnten.
Tess blätterte weiter. Hinter die Polizeiakten hatte ihre Tante kariertes Schreibpapier mit ihren eigenen Notizen geheftet. Tess stöhnte auf, als sie die vielen mit Ellens zierlicher Handschrift vollgekritzelten Seiten sah. Das würde noch ein sehr langer Abend werden.
Mit einer Kanne dampfenden Tees und ein paar Keksen bewaffnet, die sie noch ganz unten im Vorratsschrank entdeckt hatte, machte sich Tess über Ellens Notizen her. Sie massierte sich die Schläfen, während sie die wirren Theorien ihrer Tante nachzuvollziehen versuchte. Das meiste kam ihr bekannt vor. Nach dem Mord hatte Ellen ihre Ideen immer wieder mit Tess diskutiert. Doch auch ein paar neue Gedanken waren darunter, von denen die meisten aber noch unrealistischer waren als diejenigen, die Tess schon kannte.
Seite für Seite arbeitete Tess sich durch, bis es ihr langsam schwerfiel, die Augen offen zu halten. Manchmal musste sie sogar zurückblättern und manches mehrmals lesen, weil sie vor Müdigkeit Namen oder Daten durcheinanderbrachte.
Doch dann stieß sie auf eine Seite, die sofort ihre Aufmerksamkeit erregte. Es war eine Aufzählung von Namen. TODESLISTE hatte Ellen in Großbuchstaben darübergeschrieben.
Sofort war Tess hellwach. Die Liste begann mit Joannas Namen und ihrem Todesdatum im Juni vor knapp sieben Jahren. Darunter stand der Name Millie Walls. Das angegebene Datum, das fast genau ein Jahr nach Joannas Tod lag, war mit einem Fragezeichen versehen. Daneben hatte Ellen die Stichworte spurlos verschwunden, kein Lebenszeichen, Motiv? notiert.
Tess runzelte die Stirn. Zu dieser Zeit war sie längst in San
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