See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)
weiter vorgehen sollte. Die Notizen ihrer Tante ließen ihr einfach keine Ruhe.
Zwischendurch hatte sie sich zwar immer wieder gesagt, dass es das Beste wäre, sie einfach zu ignorieren, aber sie wusste genau, dass sie das nicht schaffen würde. Wenn auch nur ein Körnchen Wahrheit in ihnen steckte, ging in Shadow Lake Schlimmeres vor, als viele ahnten.
Sie wusste, dass Ellen sich durch ihre Fragen und ihre Verdächtigungen im Ort äußerst unbeliebt gemacht hatte. Ebenso war ihr klar, dass auch sie mit Fragen und weiteren Nachforschungen den Ärger der Bewohner von Shadow Lake auf sich ziehen würde. Deshalb hatte sie beschlossen, ihre Suche erst einmal an einem neutralen Ort zu beginnen, und zwar im Archiv der örtlichen Zeitung. Sie hoffte, dass sie zumindest etwas über die beiden ihr unbekannten Namen auf Ellens Todesliste, Claire Meyers und Susannah MacIntyre, herausfinden könnte.
Mit gemischten Gefühlen machte sie sich nach einem kleinen Frühstück auf den Weg.
Die Shadow Lake Gazette war früher einmal eine selbstständige kleine Zeitung gewesen. Nachdem es sich aber nicht mehr gelohnt hatte, für ein paarhundert Einwohner eine eigene Zeitung herauszugeben, hatte der Eigentümer alles an die Medford Newspaper Group verkauft. Jetzt erhielten die Leser die Zeitung aus Medford, der eine oder zwei Seiten über das Tagesgeschehen in Shadow Lake beigefügt wurden.
Geblieben war allerdings das alte Redaktionsgebäude, ein hübscher, gelb gestrichener Holzbau mit rundum verlaufender Veranda. Hier war auch das Archiv untergebracht.
Während Tess ihren weißen VW am Straßenrand vor dem Haus parkte, überlegte sie, ob die alte Pretzky wohl immer noch bei der Shadow Lake Gazette arbeitete. Sie hoffte inständig, dass es nicht so war.
Jane Pretzky war schon während Tess` Schulzeit der Schrecken aller Kinder und Jugendlichen der Umgebung gewesen. Im Rahmen von Schulprojekten hatte früher oder später jeder einmal mit ihr zu tun gehabt. Schon vorher hatten die meisten sich davor gefürchtet, das Archiv der Shadow Lake Gazette zu betreten. Jane Pretzky mochte keine Kinder, und das beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit.
Sie war kleiner als die meisten Viertklässler, dabei extrem dünn und faltig. Keiner hatte gewusst, wie alt die Pretzky tatsächlich war, aber solange Tess sie kannte, kam sie ihr uralt vor. Möglicherweise lag das neben ihren Falten an ihrem Kleidungsstil. Sie trug mit Vorliebe altmodische, geblümte Cordkleider über gestärkten weißen Blusen. Und ihre grauen Haare hatte sie stets im Nacken zu einem strengen Knoten geschlungen.
Nachdem die Redaktion der Gazette mit der Übernahme nach Medford verlegt worden war, hielt Jane Pretzky als Einzige die Stellung. So war sie für Leseranfragen, Anzeigen und eben auch das Archiv zuständig.
Als Tess die Tür öffnete, ertönte automatisch ein melodisches Klingeln. Der Raum war leer, deshalb wartete sie einen Moment. Aus dem hinteren Bereich, zu dem die Tür einen Spalt offenstand, war das Röcheln einer betagten Kaffeemaschine zu hören. Zwei oder drei Minuten lang tat sich nichts, dann rief Tess: »Hallo? Ist jemand hier?«
An den schlurfenden Schritten, die daraufhin hörbar wurden, erkannte Tess sofort, dass Jane Pretzky immer noch bei der Gazette war, schon bevor ihre schrille Stimme ertönte: »Immer mit der Ruhe, ich komme ja gleich.«
Erstaunt registrierte Tess, dass die alte Frau noch wesentlich dünner und faltiger geworden war als bei ihrer letzten Begegnung vor etwa sieben Jahren, auch wenn das kaum möglich zu sein schien. Sie hielt eine große Tasse mit dampfendem Kaffee in der Hand.
Unwillkürlich kam Tess das Bild eines Skeletts in Verkleidung in den Sinn, und sie musste ein Grinsen unterdrücken. Stattdessen setzte sie ein freundliches und – wie sie hoffte – gewinnendes Lächeln auf.
»Hallo Mrs Pretzky. Schön, Sie wiederzusehen«, log sie ohne auch nur einen Anflug von Gewissensbissen.
Die alte Frau musterte sie über die Gläser ihrer altmodischen Brille hinweg. Dann runzelte sie die Stirn. »Du bist doch die Nichte von Ellen Hennessey, oder?«, knurrte sie wenig begeistert. Sie schlurfte zu einem der Schreibtische und stellte ihre Tasse ab.
»Richtig. Mein Name ist Tess. Ich würde Sie gern um einen Gefallen bitten.«
Die Augenbrauen von Mrs Pretzky schnellten nach oben. »Einen Gefallen?«, wiederholte sie misstrauisch. »Um was geht es denn?«
Tess zog einen Zettel aus der Tasche und hielt ihn der alten Frau hin.
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