See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)

Francisco gewesen, hatte aber noch ab und zu mit ihrer ehemals besten Freundin Kate Reynolds telefoniert. Millie Walls war eine gemeinsame Freundin gewesen und mit ihnen zur Highschool gegangen. Anschließend hatte sie sich mit einem Job als Kellnerin im Restaurant des Lakeview Inn, des einzigen Hotels in Shadow Lake, über Wasser gehalten. Eines Tages war sie dann plötzlich verschwunden, ohne sich von jemandem zu verabschieden. Weder ihre Eltern noch einer ihrer Freunde hatte je wieder von ihr gehört. Allerdings hatte es damals keinerlei Hinweise darauf gegeben, dass Millie tot sein könnte. Soweit Tess wusste, war sie mitsamt ihren Sachen verschwunden. Daher war jeder davon ausgegangen, dass Millie einfach genug von Shadow Lake gehabt hatte und abgehauen war, um ihr Glück in Kalifornien oder an irgendeinem anderen Ort der Welt zu suchen. Selbst ihre Eltern, zu denen sie kein besonders gutes Verhältnis gehabt hatte, waren immer dieser Meinung gewesen. Sie waren kurz nach Millies Verschwinden aus Shadow Lake weggezogen.
    Wieder sah Tess auf die Liste. Weiter unten standen zwei Namen, mit denen sie nichts anfangen konnte. Claire Meyers und Susannah MacIntyre. Nach den Aufzeichnungen ihrer Tante war Claire im Spätsommer vor drei Jahren gestorben, Susannahs Tod war erst im Oktober des vorigen Jahres gewesen. Leider hatte Ellen keine weiteren Stichworte notiert.
    Tess merkte, dass sie eine gewisse innere Unruhe erfasst hatte. Sie stand auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen, während sie nachdachte. Auch wenn Ellen oft über das Ziel hinausgeschossen war, kamen ihr vier tote – oder verschwundene – Mädchen in einem winzigen Ort wie Shadow Lake verdächtig vor. Noch konnte sie sich keinen Reim darauf machen, doch sie beschloss, sich am nächsten Tag nach den beiden unbekannten Namen zu erkundigen. Irgendetwas müsste sich doch über sie herausfinden lassen.
    Tess schauderte. Vielleicht war ihre Tante da tatsächlich auf eine heiße Spur gestoßen!

10. Kapitel
     
    Greg Koborski lehnte am Tresen seiner winzigen Küche und sah aus dem Fenster zum Nachbarhaus hinüber. Es war schon fast dunkel, und hinter den Büschen konnte er das Haus nur noch schemenhaft ausmachen. Trotzdem wandte er den Blick nicht ab.
    Am Tag zuvor hatte er eine junge Frau beobachtet, die das Haus verlassen und mit ihrem Auto, einem kleinen weißen VW, weggefahren war. Die Frau war ganz in Schwarz gekleidet gewesen. Greg hatte sofort gewusst, wen er da vor sich hatte: Das musste Tess Hennessey, Ellens Nichte, gewesen sein. Sie war mit Sicherheit auf dem Weg zur Beerdigung ihrer Tante.
    In einem kleinen Ort wie Shadow Lake sprachen sich alle Neuigkeiten schnell herum. Man musste sich nur ab und zu an den Tresen im Restaurant des Lakeview Inn setzen, und schon erfuhr man alles, was sich im Ort ereignete. Wenn man dann noch ein paar geschickte Fragen einstreute, bekam man die Lebensgeschichte von jedem Einzelnen auf einem Silbertablett serviert. Das lag nicht zuletzt an Hank Friday, dem Besitzer des Lakeview Inn, der jeden Tag am Tresen stand und jedem Neugierigen brühwarm den aktuellen Ortsklatsch erzählte. Er war grundsätzlich besser informiert als die regionale Tageszeitung, die Shadow Lake Gazette.
    Greg grinste. In Shadow Lake blieb nichts geheim.
    Als er allerdings wieder an Tess dachte, wurde sein Gesichtsausdruck ernst. Obwohl er erst seit etwas mehr als sechs Jahren im Ort wohnte, wusste er schon ganz gut über dessen Einwohner Bescheid. Erstaunlicherweise entwickelten die meisten ein enormes Mitteilungsbedürfnis, sobald sie erst einmal Vertrauen in einen gefasst hatten. Und er war ein guter Zuhörer, ein verdammt guter sogar.
    Ein Mord war dabei natürlich ein besonders beliebtes Gesprächsthema, selbst wenn er schon mehrere Jahre zurücklag. Sobald Greg das Thema Joanna Miller auch nur anschnitt, erfuhr er immer wieder neue Details. Die Menschen fühlten sich wichtig, weil sie bei dem Ereignis, das die Medien im ganzen Land bewegt hatte, dabei gewesen waren. Die Rolle der Familie Hennessey ließ sich dabei besonders gut breittreten.
     Natürlich hatte Greg im Lauf der Zeit eine Menge über Tess erfahren, angefangen vom tragischen Tod ihrer Eltern bei einem Autounfall. Den Erzählungen nach waren sie zusammen mit Ellens Mann Jonathan auf der Rückfahrt von einer Messe gewesen, als es einen heftigen Wolkenbruch gegeben hatte. Der Wagen war auf der plötzlich überschwemmten Fahrbahn in einer Kurve ins Schleudern geraten und