See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)
»Ich habe hier die Namen von drei Mädchen, über die ich gern etwas mehr erfahren würde. Vielleicht haben Sie ja im Archiv etwas über sie. Es geht zum einen um Millie Walls. Sie wissen ja sicherlich, dass sie vor knapp sechs Jahren plötzlich verschwunden ist.«
»Über Millie haben wir nichts«, unterbrach Mrs Pretzky sie schroff. »Wir können schließlich nicht über jeden berichten, der aus Shadow Lake wegzieht.«
Wegziehen ist vielleicht nicht das richtige Wort, dachte Tess im Stillen, sagte aber nichts dazu. Mit einer Reaktion wie dieser hatte sie schon gerechnet.
»Gut. Der zweite Name ist Claire Meyers. Dazu habe ich auch ein Datum, und zwar den 9. September vor drei Jahren. Ich habe mir gedacht, wenn es überhaupt jemanden in Shadow Lake gibt, der mir weiterhelfen kann, dann Sie. Die Gazette ist doch immer bestens informiert.«
Tess schluckte. Sogar für sie selbst hörte sich ihre Bitte sehr gekünstelt an. Aber anscheinend hatte sie bei Mrs Pretzky genau den richtigen Nerv getroffen, denn es war plötzlich ein winziges Lächeln in ihrem faltigen Gesicht aufgeblitzt.
»Claire Meyers? Ja, der Name sagt mir etwas. Über sie haben wir ein oder zwei Mal berichtet, da bin ich mir sicher«, murmelte sie und schob ihre Brille ein Stück höher, während sie vor dem großen Computerbildschirm Platz nahm, der auf einem der Schreibtische stand. Mit für ihr Alter erstaunlich flinken Fingern tippte sie ein paar Daten ein.
Schon wenige Sekunden später begann der Drucker neben dem Bildschirm zu rattern und spuckte mehrere Papiere aus.
»So, das hätten wir. Um welchen Namen geht es noch?«, erkundigte sich Mrs Pretzky so hilfsbereit, dass Tess Mühe hatte, ihre Verwunderung zu verbergen. So kannte sie die alte Frau gar nicht.
»Um Susannah MacIntyre. Das Datum ist der 16. Oktober des letzten Jahres«, antwortete sie deshalb schnell, bevor sie in ihre alten Gewohnheiten zurück verfallen konnte.
»Ja, daran erinnere ich mich natürlich. Das war wirklich eine tragische Geschichte«, seufzte Mrs Pretzky. Tess traute ihren Ohren nicht. Was war das denn? Hatte sich da tatsächlich eine Spur Mitleid in ihre Stimme geschlichen?
Fassungslos schüttelte Tess den Kopf, während Mrs Pretzky schon wieder flink tippte. Kurz darauf überreichte die alte Frau ihr einen dünnen Stapel Papiere.
»Was bin ich Ihnen schuldig?«, wollte sie wissen, aber Mrs. Pretzky winkte ab.
»Lass mal gut sein, das gehört zum Service der Gazette«, meinte sie großzügig.
Tess steckte die Papiere in ihre Tasche. »Ja, dann vielen Dank, Mrs Pretzky«, gab sie zurück. Diesmal war ihr Lächeln nicht geheuchelt. »Sie haben mir wirklich sehr geholfen. Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen Tess. Du kannst ruhig vorbeikommen, wenn ich dir noch irgendwie helfen kann«, kam die prompte Antwort.
Während Tess das Zeitungsgebäude verließ, war sie immer noch völlig verwundert über die unerwartete Hilfsbereitschaft von Mrs Pretzky. Sie nahm sich vor, ihr demnächst als kleines Dankeschön ein Päckchen Kaffee vorbeizubringen.
12. Kapitel
Nervös blickte Kate Reynolds aus dem großen Fenster der Filiale der Oregon Savings and Loan hinüber auf die andere Straßenseite. Von ihrem Schreibtisch aus hatte sie einen guten Blick auf die Hauptstraße von Shadow Lake, an der fast alle Läden des Ortes lagen. Schräg gegenüber der kleinen Bankfiliale, die Kate vor einigen Monaten übernommen hatte, befand sich die frühere Redaktion der Shadow Lake Gazette.
Vor ungefähr zehn Minuten hatte Kate beobachtet, wie ein weißer VW vor dem Gebäude gehalten hatte. Zu ihrem Erstaunen war Tess ausgestiegen und ohne Umwege in das hübsche gelbe Haus gegangen. Jetzt wartete Kate unruhig darauf, dass Tess wieder aus dem Zeitungsgebäude herauskam.
Was wollte sie da? Dass Tess die alte Pretzky besuchen wollte, war wohl äußerst unwahrscheinlich. Der alte Drache war überall so unbeliebt, dass keiner die Räume der Gazette betrat, der es irgendwie vermeiden konnte. Kate runzelte die Stirn. Ihr fielen nur zwei Gründe ein, warum ihre ehemals beste Freundin freiwillig Kontakt zu Mrs Pretzky aufnehmen könnte: Entweder wollte sie eine Dankesanzeige für die Beileidsbekundungen zum Tod ihrer Tante aufgeben oder sie war auf der Suche nach Informationen und hoffte, im Archiv der Zeitung etwas zu finden.
Kate hoffte inständig, dass Tess wegen der Anzeige gekommen war, aber eigentlich glaubte sie nicht daran. Von Reverend Cole hatte sie am Morgen erfahren,
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