See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)
Unschuld beweisen.
Nachdenklich biss sich Tess auf die Unterlippe. Ein Teil von ihr wünschte sich, dass es wirklich so wäre. Dass Jared nicht der Mörder war, für den ihn alle hielten. Aber das schien alles so weit hergeholt. Eine sinnvolle Verbindung zwischen einem Unfalltod durch Ertrinken und einem blutigen Mord herzustellen, war nicht so einfach.
Mit einem Seufzen wandte sie sich den Artikeln über Susannah MacIntyre zu. Der erste von ihnen war nur eine kurze Meldung, die am 17. Oktober des Vorjahres erschienen war: Leiche am Shadow Lake gefunden – Gestern wurde von einem Angler die Leiche einer jungen Frau am Ufer des Shadow Lake gefunden. Dabei handelt es sich um die zweiundzwanzigjährige Susannah MacIntyre aus Medford. Nach Angaben des Sheriffbüros beging sie offenbar Selbstmord.
Tess blätterte noch einmal zum ersten Bericht über Claires Tod zurück. Sie zog die Augenbrauen hoch, als sie erkannte, dass beide Meldungen fast die gleiche Überschrift trugen.
Der zweite Artikel, der schon am nächsten Tag abgedruckt worden war, brachte die Story dagegen in ganz großer Aufmachung. Die Schlagzeile lautete Frau am Shadow Lake beging Selbstmord . Interessiert las Tess weiter: Wie wir bereits berichteten, wurde am 16. Oktober bei Anbruch der Dunkelheit die Leiche der 22jährigen Susannah MacIntyre am Ufer des Shadow Lake von Greg Koborski gefunden, der zum Angeln an den See gegangen war. Greg sagte gegenüber unserer Zeitung: »Es wurde schon dunkel, und ich wollte noch ein bisschen fischen gehen, da sah ich plötzlich die Frau liegen. Zuerst dachte ich, sie wäre nur eingeschlafen, aber sie war so merkwürdig blass. Ich habe also nachgeschaut, ob sie noch atmet und einen Puls hat, aber beides war nicht der Fall. Trotzdem habe ich einen Krankenwagen gerufen. Aber es war schon zu spät. Vielleicht hätte ich noch etwas machen können, wenn ich früher da gewesen wäre.«
Nach Auskunft des Büros des Sheriffs hat Susannah MacIntyre sich mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben genommen. Sie hinterließ einen Abschiedsbrief, in dem sie erklärte, dass sie sich einsam fühle und ihr Leben sinnlos sei. Aus welchem Grund sie sich für ihre Tat ausgerechnet den Shadow Lake aussuchte, konnte bislang nicht geklärt werden. Die junge Frau war vorher noch nicht im Ort gesehen worden.
Susannah MacIntyre stammte aus Boston, Massachusetts. Sie war erst wenige Wochen zuvor nach Medford gezogen, weil sie eine Stelle beim dortigen Landmaschinenhersteller Red Devil Engines angenommen hatte. Ihre Familie, die in Cambridge, Massachusetts wohnt, veranlasste bereits die Überführung des Leichnams.
Besonders makaber dürfte für die Bewohner von Shadow Lake die Tatsache sein, dass sich Susannah MacIntyre an genau derselben Stelle das Leben nahm, an der sechs Jahre zuvor bereits eine andere junge Frau, Joanna Miller, den Tod fand.
Als Tess den letzten Satz des Artikels las, schauderte sie. Wieder kamen ihr die Bilder von dem Abend, als sie Joanna gefunden hatte, in den Sinn. Sie schüttelte sich kurz, um die Erinnerungen loszuwerden, allerdings mit mäßigem Erfolg. Joannas leere blaue Augen wollten sie einfach nicht loslassen.
Um sich abzulenken, konzentrierte sich Tess auf das Bild von Susannah, das ebenfalls abgedruckt war. Es handelte sich um eine Porträtaufnahme eines professionellen Fotografen. Vermutlich ihr Bewerbungsfoto für Red Devil Engines, dachte Tess. Da die Shadow Lake Gazette in der Zwischenzeit auf modernen Vierfarbdruck umgestellt hatte, war das Bild nicht wie das von Claire Meyers in Grautönen, sondern farbig dargestellt. Susannah trug eine weiße Bluse und einen hellgrauen Blazer und lächelte charmant. Trotz der gestellten Aufnahme strahlte das Bild ungetrübte Lebensfreude aus, und die langen roten Locken strahlten mit den grünen Augen um die Wette.
»Nicht gerade eine Frau, der man einen Selbstmord zutrauen würde«, murmelte Tess leise. »Aber wer weiß schon, was in ihrem Inneren vorgegangen ist. Man kann in die Menschen ja leider nicht hineinsehen.«
Sie stand auf und ging im Zimmer auf und ab, um die neuen Informationen besser verarbeiten zu können. Sie hatte schon geglaubt, den Zusammenhang zwischen den Namen auf Ellens Todesliste zu sehen, als ihr die Ähnlichkeit zwischen Joanna und Claire Meyers aufgefallen war. Aber Susannah MacIntyres Foto hatte diese Theorie wieder über den Haufen geworfen. Sie war – zumindest was das Äußere betraf – ein ganz anderer Typ als die beiden
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