See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)
weder ihre Blässe noch die zusammengerollte Körperhaltung, die ihn am heftigsten trafen. Es war der gequälte Ausdruck, der auch nach dem Tod immer noch auf ihrem Gesicht lag. Diesen Anblick würde er wohl nie wieder aus dem Gedächtnis bekommen.
Mit großer Kraftanstrengung zwang er sich, weiterzublättern. Hinter die Fotos war der Bericht des örtlichen Gerichtsmediziners geheftet, der als Todesursache Atemstillstand in Folge einer Überdosis Barbiturate in Verbindung mit Alkohol festgestellt hatte. Die Schlaftabletten waren in der Whiskyflasche aufgelöst gewesen, die bei Susannah gefunden worden war. Der Alkohol hatte die Wirkung des Medikaments demnach noch verstärkt und beschleunigt.
Dann folgte die Zeugenaussage eines gewissen Greg Koborski, der Susannah gefunden hatte. Er hatte zu Protokoll gegeben, dass er am Shadow Lake angeln gehen wollte und dabei auf die Leiche der jungen Frau gestoßen war. Er hatte noch einen Rettungswagen gerufen, aber es war schon zu spät gewesen. Der Arzt hatte festgestellt, dass Susannah bereits seit über einer Stunde tot gewesen sein musste.
Auf den nächsten Seiten waren die Aussagen von Kollegen und Bekannten von Susannah zusammengefasst. Die meisten von ihnen kamen aus Medford, aber es waren auch ein paar darunter, die in Shadow Lake wohnten, aber zusammen mit Susannah in Medford gearbeitet hatten. Ihre Aussagen waren wenig ergiebig. Alle hatten angegeben, Susannah nur oberflächlich zu kennen. An ihrem Verhalten hatten sie nichts Auffälliges beobachtet, und sie hatte ihnen auch nicht erzählt, dass etwas nicht in Ordnung war.
Ryan überlegte einen Moment, dann zog er Stift und Papier aus der Tasche und notierte sich die Namen der Kollegen aus Shadow Lake. Dabei entging ihm nicht, dass Ruth ihm demonstrativ missbilligende Blicke zuwarf. Mit ihren zusammengekniffenen Augen und der Hakennase sah sie aus wie ein angriffslustiger Geier.
Nachdem er den Zettel mit den Namen in seiner Hemdtasche verstaut hatte, blätterte er weiter. Als Nächstes folgte die Kopie von Susannahs Abschiedsbrief, der nur aus wenigen Zeilen bestand. Zum Vergleich nahm Ryan den Brief hervor, den er in der Wohnung seiner Mutter gefunden hatte, und legte ihn daneben. Die Handschrift sah tatsächlich sehr ähnlich aus, auch wenn der Abschiedsbrief insgesamt unordentlicher wirkte.
Plötzlich stutzte Ryan. Er war über die Anrede im Abschiedsbrief gestolpert. Liebe Mum, lieber Dad , hatte Susannah geschrieben. Wie konnte das sein? Ihr Vater war seit mehr als fünf Jahren tot. Das wusste Susannah natürlich. Wollte sie damit einen Hinweis geben, dass sie den Brief nicht freiwillig geschrieben hatte? Oder war sie vielleicht schon so verwirrt gewesen, dass sie sich nicht mehr daran erinnerte? Nachdenklich rieb sich Ryan mit dem Handrücken über die Stirn. Noch einmal las er den Brief Wort für Wort durch:
Liebe Mum, lieber Dad,
es tut mir leid, dass ich Euch das antun muss, aber ich kann einfach nicht mehr. Mein Leben ist so sinnlos. Ich habe das Gefühl, ganz allein zu sein. Bitte seid mir nicht böse.
In Liebe, Susannah.
Ryan fröstelte, und das lag nicht nur an der kühlen Luft im Büro. Er schlug die Seite um. Dahinter war das Gutachten des Sachverständigen geheftet, der bestätigte, dass es sich wirklich um Susannahs Handschrift handelte. Dass der Abschiedsbrief ein unregelmäßigeres Schriftbild aufwies, hatte er auf den seelischen Ausnahmezustand zurückgeführt. Zum Vergleich der Handschriften hatte er Schriftproben herangezogen, die ihm Susannahs Arbeitgeber zur Verfügung gestellt hatte. In dieser Akte Notizen über Ersatzteile für Traktoren zu lesen, erschien Ryan geradezu absurd.
Er blätterte noch die restlichen paar Seiten durch, entdeckte aber nichts, was für ihn noch von Interesse war. Also stand er auf, gab Ruth die Akte mit ein paar gemurmelten Dankesworten zurück und verließ die Polizeistation.
Als er wieder in die warme Luft vor dem Gebäude trat, war er ganz froh, dass Shadow Lake so ein verschlafenes kleines Nest war. Er brauchte eine Weile für sich, um alles zu verdauen, was er gerade gelesen hatte. Da konnte er auf eine Begegnung mit einem neugierigen Einheimischen gern verzichten.
15. Kapitel
Keine zwei Stunden später stand Tess vor dem Frisiersalon von Shadow Lake und spähte durch die Glasscheibe der Tür ins Innere des Ladens. Er hieß noch genauso wie früher: Shadow Lake Friseur stand in blauen Aufklebebuchstaben auf dem großen Schaufenster.
Tess
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