Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)

See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)

Titel: See der Schatten - Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenna Aaron
Vom Netzwerk:
die Hände in die Hüften stemmte. »Hören Sie, ich verstehe Sie schon. Für die Angehörigen ist so etwas natürlich immer schwer zu begreifen. Keiner will wahrhaben, dass eine geliebte Person nicht mehr weiterleben wollte. Dazu kommen dann natürlich noch die eigenen Schuldgefühle, weil man nichts gemerkt hat und nicht rechtzeitig eingreifen konnte. Es kann schon sein, dass Ihre Schwester noch gut drauf war, als sie den Brief an Ihre Mutter geschrieben hat. Aber vielleicht ist dann etwas passiert, das sie dazu bewogen hat, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Vielleicht hat ihr Lover sie betrogen oder sonst irgendwas. Und dann kam es zu dieser Kurzschlussreaktion. Das ist bedauerlich, äußerst bedauerlich sogar.« Er zuckte die Achseln. »Aber es kommt nun einmal vor.«
    Ryan kniff skeptisch die Augen zusammen. »Ist das alles, was Ihnen dazu einfällt? Eine Kurzschlussreaktion? Meinen Sie wirklich, Susannah besorgt sich Schlaftabletten, setzt sich ins Auto und fährt mehr als dreißig Meilen in einen Ort, zu dem sie gar keine Verbindung hat, um sich dort umzubringen?« Er schüttelte den Kopf. »Das ergibt doch gar keinen Sinn.«
    »Selbstmord ergibt für Außenstehende selten einen Sinn.« Der Stimme des Sheriffs war inzwischen deutlich anzuhören, dass er langsam ungeduldig wurde, aber Ryan hatte nicht vor, so schnell nachzugeben.
    »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich einen Blick in die Ermittlungsakten von damals werfe?«, erkundigte er sich freundlich, aber bestimmt.
    Marcks machte eine abwehrende Handbewegung. »Die sind unter Verschluss. Es ist nicht üblich, die Akten an Zivilisten auszuhändigen, auch nicht an die Angehörigen der Betroffenen. Außerdem wurde der Fall zweifelsfrei aufgeklärt und ordnungsgemäß abgeschlossen.«
    »Aber gerade dann dürfte es doch kein Problem sein, wenn ich sie mir mal ansehe«, wandte Ryan ein. Als er merkte, dass der Sheriff zögerte, fügte er schnell hinzu: »Oder haben Sie etwas zu verbergen?«
    Einen kurzen Moment starrte Marcks ihn feindselig an, während seine Finger an den Gürtelschlaufen seiner Hose zu spielen begannen. Es fiel ihm offensichtlich schwer, ruhig zu bleiben.
    Wahrscheinlich kam es nicht häufig vor, dass seine Autorität infrage gestellt wurde, dachte Ryan.
    Nach einem längeren Zögern knurrte Marcks: »Ruth, gib Mr MacIntyre die Ermittlungsakten im Fall Susannah MacIntyre. Er gibt ja sonst doch keine Ruhe.« Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und verschwand wieder in seinem Büro. Das Zuknallen der Tür scheiterte an dem modernen, schallschluckenden Dichtungsmaterial.
    Die pummelige Frau am Empfang, die das Gespräch die ganze Zeit mit unverhohlenem Interesse verfolgt hatte, fischte mit missbilligender Miene eine braune Mappe aus einem der grauen Büroschränke und reichte sie Ryan. Dabei wies sie mit der Hand auf einen Tisch neben dem Eingang der Polizeistation. »Dort können Sie sich hinsetzen. Aber die Akte muss vollständig bleiben. Sie dürfen auf keinen Fall etwas herausnehmen, klar?«
    »Klar.« Ryan nickte und setzte sich auf den unbequemen Besucherstuhl. Während er die Ermittlungsakte über den Tod seiner Schwester durchging, war er sich dessen bewusst, dass er keine Sekunde von Ruth aus den Augen gelassen wurde.
    Die Akte war erstaunlich dünn. Allzu viele Ermittlungen schienen also nicht angestellt worden zu sein, dachte Ryan nicht ohne Verbitterung.
    Ganz vorn waren Fotos von Susannahs Leiche eingeheftet. Sie zeigten sie aus allen Blickwinkeln und mit sämtlichen Details. Zusammengerollt wie ein Embryo lag sie zwischen Felsen und kleineren Steinen auf einer schmalen Grasfläche. Ihre Augen waren geschlossen. Das feurige Rot ihrer Haare stand in einem krassen Kontrast zu ihrer unnatürlich blassen Haut und den blau angelaufenen Lippen. Ein dünnes Rinnsal Speichel war aus ihrem Mundwinkel gelaufen und zu einer weißen Spur verkrustet. Obwohl es im Oktober sicher nicht besonders warm gewesen war, hatte sie nur ein T-Shirt und keine Jacke getragen. Ihre Hand umklammerte immer noch eine Whiskyflasche, in der sich ein kleiner Rest einer goldfarbenen Flüssigkeit befand.
    Immer wieder musste Ryan auf das bleiche Gesicht seiner Schwester starren. Er hatte sie kurz vor der Beerdigung noch einmal gesehen, als er und seine Mutter am offenen Sarg von ihr Abschied genommen hatten, aber da war sie schon vom Bestatter hergerichtet und geschminkt gewesen. Damals hatte sie ausgesehen, als würde sie friedlich schlafen. Er schluckte. Es waren

Weitere Kostenlose Bücher