See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)
beruhigt zu haben. Insgeheim atmete Tess erleichtert auf. Wenn Shannon eingeschnappt gewesen wäre, hätte sie vermutlich kaum etwas aus ihr herausbekommen.
»So, dann lass uns mal loslegen«, meinte Shannon und wies auf einen der Frisierstühle. Nachdem Tess sich gesetzt hatte, stellte sich Shannon hinter sie und strich ihr mit beiden Händen durch die Haare, die ihr gerade mal bis zum Kinn reichten.
»Naja, allzu viel lässt sich damit ja nicht anfangen. Kurz genug sind sie ja. Früher hattest du so tolle lange Haare«, sagte sie mit einer Spur Missbilligung in der Stimme. »Aber was hältst du von ein paar helleren Strähnchen? Das sähe bestimmt klasse aus.«
»Warum nicht?«, gab Tess leichthin zurück. Das Färben der Haare würde ihr genug Zeit verschaffen, Shannon ein bisschen über die toten Frauen auszuhorchen.
Während Shannon das Färbemittel anrührte, wechselte sie unvermittelt das Thema: »Übrigens tut mir das mit deiner Tante wirklich leid. Alle im Ort waren völlig geschockt, als sie von dem Flugzeugabsturz erfahren haben.«
Tess verzog keine Miene. »Aber anscheinend nicht geschockt genug, um zu ihrer Beerdigung zu kommen«, erwiderte sie, wobei sie ihre Verbitterung in ihrer Stimme nicht ganz verbergen konnte. Sie konnte in diesem Augenblick nicht anders, auch wenn ihr durchaus klar war, dass ihre Bemerkung die Chancen auf ein lockeres Gespräch nicht gerade erhöhte.
Shannon musterte ihre Schulfreundin prüfend im Spiegel, dann seufzte sie. »Ich weiß. Reverend Cole hat mir erzählt, dass außer dir und Rosie Bergman keiner auf dem Friedhof war.« Sie atmete einmal tief durch und fuhr dann fort: »Aber du hast ja auch nicht miterlebt, wie sich Ellen in der letzten Zeit in Shadow Lake benommen hat. Sie hat sich aufgeführt wie eine Furie. Alle und jeden hat sie verdächtigt, etwas mit Joannas Tod zu tun zu haben. Du musst die Leute hier verstehen. Ellen hat es sicherlich nicht leicht gehabt in ihrem Leben, aber irgendwann hat es allen gereicht.«
Tess lächelte gequält. »Schon gut, ich weiß, wie sie war. Ich bin ja selbst vor ihr geflüchtet«, gab sie zu. Dann grinste sie vorsichtig. »Aber jetzt erzähl doch erst einmal von dir. Du bist also mit Justin verheiratet, ja?«
»Richtig.« Wieder strahlte Shannon über das ganze Gesicht. Sie stellte sich neben Tess und begann, mit einem Pinsel das Färbemittel aufzutragen. »Wie du weißt, ist er ja nach der Highschool nach Klamath Falls gegangen, ans Technische College. Ich bin hiergeblieben. Shadow Lake war schon immer meine Welt, musst du wissen. Hier fühle ich mich wohl und hier will ich bleiben. Mich hat es nie an die Küste oder in eine Großstadt gezogen. Justin wollte beruflich etwas mit Technik machen. Das konnte er hier nicht, deshalb musste er für eine Weile weg. Aber zum Glück ist Klamath Falls ja nicht allzu weit entfernt. Wir konnten uns am Wochenende öfter sehen. Naja, und trotz der Distanz sind wir zusammengeblieben. Als er fertig war, ist Justin dann zu Red Devil Engines nach Medford gegangen. Er arbeitet dort im Vertrieb und muss viel reisen. Aber glücklicherweise haben wir auch ab und zu Zeit für uns.«
Tess nickte. Ein Job bei Red Devil war naheliegend, wenn man in der Gegend bleiben wollte. Nur bei dem großen Landmaschinenhersteller gab es viele gut bezahlte Stellen. Halb Shadow Lake stand dort auf der Gehaltsliste, seit in der Landwirtschaft die Zahl der Arbeitsplätze deutlich zurückgegangen war.
»Da habt ihr wirklich Glück gehabt, dass alles so geklappt hat, wie ihr das wolltet«, meinte sie ehrlich. Im Spiegel beobachtete sie Shannon, die sich jetzt ganz auf ihre Arbeit konzentrierte. Allerdings hatte Tess nicht vergessen, aus welchem Grund sie eigentlich in den Salon gekommen war. Deshalb sagte sie im gleichen Plauderton wie vorher: »Sag mal, wenn Justin in Klamath Falls auf dem College gewesen ist, dann kannte er doch bestimmt diese Claire Meyers. Ich meine das Mädchen, das im See ertrunken ist.
Shannon starrte Tess im Spiegel erschrocken an. Ihr Gesicht war unter dem Make-up etwas blasser geworden und ihre Hand mit dem Haarfärbepinsel verharrte reglos in der Luft über Tess` Kopf.
»Erinnere mich bloß nicht daran«, gab sie zurück. Unwillkürlich hatte sie die Stimme gesenkt. »Es war so schrecklich, du kannst dir das gar nicht vorstellen.« Sie seufzte, schüttelte nachdenklich den Kopf und fuhr dann mit dem Auftragen des Haarfärbemittels fort. »Claire war eine Studienfreundin von Justin.
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