See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)
Tess, behielt es aber für sich. Die Atmosphäre in dem kleinen Geschäft war schon aufgeheizt genug. »Den Umständen entsprechend, würde ich sagen«, entgegnete sie stattdessen diplomatisch.
Frank Miller musterte sie prüfend durch seine dicken Brillengläser. Dann nickte er. Seine Miene drückte Verständnis aus – und Mitleid. »Es tut uns natürlich leid, was passiert ist …«
»Mir nicht!«, wurde er jäh von seiner Frau unterbrochen.
Verblüfft sah Tess zu Joannas Mutter hinüber. Die sonst so ausgeglichene und freundliche Frau starrte sie feindselig an. Dabei war ihr Gesicht vor Aufregung und Empörung gerötet. Sie war so aufgebracht, dass sie am ganzen Körper zitterte.
»Ehrlich gesagt bin ich froh, dass Ellen endlich unter der Erde liegt«, keifte sie mit einem kalten Funkeln in den Augen. »Nicht nur, dass sie einen Mörder großgezogen hat, sie hat auch noch alle hier im Ort gegeneinander aufgehetzt. Sie hat es verdient, was passiert ist. Ich hoffe, jetzt kehrt endlich Ruhe ein.«
Tess war wie vor den Kopf gestoßen. In solch deutlichen Worten hatte ihr noch niemand gesagt, was er von ihrer Tante hielt. Fassungslos blickte sie von Mrs Miller zu ihrem Mann. Dieser stand an der Kasse und tippte mit zusammengekniffenen Lippen die Preise in die alte Registrierkasse. Ihm schien der plötzliche Gefühlsausbruch unglaublich peinlich zu sein.
»Tut mir leid«, murmelte er Tess leise zu, während sie die Lebensmittel bezahlte. »Wendy ist im Moment ein bisschen durcheinander. Ich bin mir sicher, sie meint es nicht so.«
Tess schluckte schwer. Dann nickte sie wortlos und wandte sich zum Gehen. Aber bevor sie den Laden verließ, drehte sie sich noch einmal um.
»Mrs Miller«, begann sie mit tränenerstickter Stimme. »Ich weiß, Sie haben Schreckliches erlebt, wahrscheinlich das Schlimmste, was Eltern überhaupt passieren kann. Und ich habe wirklich Verständnis dafür, dass Sie nichts mehr mit mir zu tun haben wollen, weil ich Sie an das erinnere, was passiert ist. Aber ich habe Joanna nicht umgebracht.« Mit der Hand wischte sich Tess kurz die Tränen von den Wangen, bevor sie fortfuhr: »Sie können mir glauben, ich vermisse sie immer noch. Sie war eine meiner besten Freundinnen, und seit ihrem Tod ist kein Tag vergangen, an dem ich mich nicht gefragt habe, ob ich es nicht hätte verhindern können. Aber was geschehen ist, ist nun einmal geschehen, und keiner kann es rückgängig machen.« Sie machte eine kurze Pause und fügte dann mit leiser Stimme hinzu: »Auch wenn ich wirklich alles dafür geben würde.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte Tess aus dem Laden. Dabei versuchte sie, ihr Schluchzen solange zu unterdrücken, bis die Tür hinter ihr zugefallen war.
17. Kapitel
Nach seinem Besuch beim Sheriff hatte Ryan versucht, die alten Freunde seiner Schwester in Cambridge und Boston anzurufen. Er war inzwischen davon überzeugt, dass seine Schwester nicht wie angenommen schon länger depressiv gewesen war. Seiner Meinung nach gab es nur zwei Möglichkeiten. Entweder jemand hatte sie umgebracht, es aber wie einen Selbstmord aussehen lassen, oder es war etwas Schreckliches am Tag ihres Todes passiert. Etwas, das so schlimm gewesen war, dass es Susannah völlig aus der Bahn geworfen hatte, sodass sie nur den einen Ausweg gesehen hatte, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen.
Beide Möglichkeiten waren beunruhigend, und er musste unbedingt wissen, was tatsächlich damals passiert war, bevor er wieder in sein normales Leben zurückkehren konnte.
Er wollte noch einmal mit den Freunden von Susannah sprechen, auch mit denen, die sie schon eine Weile vor ihrem Tod nicht mehr gesehen hatte. Vielleicht konnte er ja irgendeine Kleinigkeit in Erfahrung bringen, irgendetwas, von dem die anderen nicht einmal wussten, dass es eine Bedeutung hatte, das ihn aber weiterbringen würde.
Leider hatte Ryan an diesem Tag nur wenige von Susannahs alten Freunden erreicht. Alle, mit denen er gesprochen hatte, hatten ihm ungefähr dasselbe berichtet. Übereinstimmend hatten sie gesagt, dass sie noch losen Kontakt mit Susannah gehalten hatten, ihnen aber nichts Besonderes vor ihrem Tod aufgefallen war. Sie hatte gewirkt wie immer, hatte einen ausgeglichenen, lebenslustigen Eindruck gemacht und mit keinem Wort erwähnt, dass sie vielleicht ernsthafte Probleme hatte. Dementsprechend war ihr Selbstmord für alle ein Schock gewesen.
»Es war wirklich, als hätte mich ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen, als ich
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