See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)
Träumen vor. Die leeren blauen Augen würden sie wahrscheinlich ihr Leben lang verfolgen. Und immer noch überfielen sie plötzlich völlig unerklärbare Angstzustände, wenn sie gar nicht damit rechnete.
Sie fuhr an den rechten Straßenrand, hielt an und vergrub das Gesicht in ihren Händen. Hemmungslos schluchzte sie auf. Sie hatte eigentlich nur noch einen Wunsch: Shadow Lake mit all seinen Erinnerungen und damit ihre gesamte Vergangenheit hinter sich zu lassen. Sie wollte einfach in ihr ruhiges, geregeltes Leben in San Francisco zurückkehren.
Sie dachte an die kleine Boutique, die sie sich dort aufgebaut hatte. Da sie niemanden hatte, der ihr für längere Zeit aushelfen konnte, hatte sie das Geschäft für einige Tage schließen müssen. Je länger sie also in Oregon blieb, umso mehr musste sie von ihren Ersparnissen zehren. Wenn sie Ellens Haus nicht schnell verkaufen konnte, würde es finanziell bald ziemlich eng für sie werden. Auch das war ein Grund, ihren Aufenthalt in Shadow Lake so kurz wie möglich zu halten.
Einen Moment lang überlegte Tess, zum Haus ihrer Tante zu fahren, alle ihre Sachen in den Wagen zu packen und direkt zurück nach Kalifornien aufzubrechen. Der Gedanke erschien ihr äußerst verlockend. Trotzdem entschied sie sich dagegen. Sie war nach Shadow Lake gekommen, um die schrecklichen Erinnerungen zu verarbeiten. Und dafür musste sie sich ihren Ängsten stellen.
Sie presste entschlossen die Lippen aufeinander. Es wurde Zeit, endlich damit anzufangen.
Tess startete den Motor ihres Wagens und fuhr los. Um zu ihrem Ziel zu gelangen, musste sie noch einmal quer durch den Ort fahren.
Es war bereits Abend geworden und die Menschen kehrten von ihrer Arbeit zurück nach Hause oder erledigten noch ein paar Einkäufe. Daher begegneten ihr mehrere Fahrzeuge. Sie achtete aber gar nicht darauf, ob sie jemanden kannte, sondern konzentrierte sich nur auf ihren Weg.
Tess fuhr zum Parkplatz am See und stellte ihren Wagen ab. Schon beim Aussteigen fröstelte sie. Das war die Stelle, wo am Abend von Joannas Tod Jareds Honda abgestellt gewesen war. Von hier aus waren sie zu ihrem verhängnisvollen Picknick aufgebrochen. Und hier hatten auch die Streifenwagen gestanden, als man sie nach dem Entdecken von Joannas Leiche versorgt und befragt hatte. Unwillkürlich meinte sie, wieder die grell aufblitzenden blauen und roten Lichter zu sehen. Die Erinnerung daran reichte aus, um eine Welle von Panik in ihr aufsteigen zu lassen. Seit diesem Abend war sie nicht mehr hier gewesen.
Sie schluckte, atmete ein paar Mal tief durch und zwang sich zur Ruhe. Als sich ihr Herzschlag langsam wieder normalisierte, machte sie sich auf den Weg zur Landzunge.
Der schmale Weg führte durch eine Baumgruppe zum Seeufer. Als zum ersten Mal das Wasser des Sees in Sicht kam, blieb Tess stehen und gönnte sich einen Moment Zeit, den Anblick in sich aufzunehmen. Der Shadow Lake trägt seinen Namen wirklich zu Recht, dachte sie. Selbst bei klarem Himmel und strahlendem Sonnenschein schienen immer dunkle Schatten auf der Wasseroberfläche zu liegen, und die tieferen Schichten schimmerten in einem unergründlichen Blaugrün.
Früher hatte sie die sich ständig verändernde Farbe des Sees geliebt. Doch inzwischen waren die schrecklichen Erinnerungen untrennbar damit verbunden und hatten alle schönen Momente aus ihrer Kindheit, die sie am Shadow Lake verbracht hatte, in den Hintergrund gedrängt. Niedergeschlagen fragte sich Tess, ob sie jemals unbefangen an einem See stehen und die Landschaft genießen konnte, ohne dass sie sofort wieder die Bilder von Joanna vor sich sah. Sie fröstelte. Wahrscheinlich nicht, dachte sie. Momentan mied sie es, auch nur in die Nähe eines Sees zu gehen. Selbst um die Gewässer im Golden Gate Park in San Francisco, den täglich Hunderte von Touristen und Einheimischen bevölkerten, machte sie einen großen Bogen.
Tess versuchte die dunklen Gedanken abzuschütteln, aber es gelang ihr nicht ganz. Eine seltsame Mischung aus Angst und Hilflosigkeit blieb, als sie den Weg zur Landzunge fortsetzte.
Während sie weiterging, fiel ihr die Stille auf, die rund um den See herrschte. Außer Vogelgezwitscher und dem leisen Rauschen des Windes in den Blättern war nichts zu hören. Weder Motorenlärm noch Stimmen oder Musik störten die Ruhe.
Tess fragte sich, warum ihr das früher nie aufgefallen war. Hatte sie es einfach als selbstverständlich angesehen? Wahrscheinlich war das so, dachte sie. Erst seit
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