See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)
prüfenden Blick zu. »So schlimm?«, fragte er leise.
Tess nickte. »Mach dich auf einen hässlichen Anblick gefasst«, warnte sie ihn vor.
Während er die Bilder aus dem Umschlag zog und anzusehen begann, beobachtete sie ihn genau. Schon beim Anblick des ersten Fotos wich die Farbe aus seinem Gesicht. »Oh mein Gott«, murmelte er und starrte fassungslos auf die Großaufnahme von Joannas Leiche. Dann sah er auf. »So schlimm hatte ich es mir ehrlich gesagt nicht vorgestellt. Jetzt verstehe ich, warum du gestern am See so aufgewühlt warst.« Er schüttelte erschüttert den Kopf und atmete laut aus. »Allein die Fotos reichen ja schon aus, dass einem ganz anders wird, aber du hast das Ganze ja im Original erlebt. Das muss schrecklich gewesen sein. Wie kommst du damit klar?«
»Es war beinahe nicht zu ertragen.« Tess gelang ein gequältes Lächeln. »Vergessen werde ich diesen Anblick nie. Aber irgendwie muss ich wohl damit weiterleben.«
Es kostete sie viel Überwindung, ebenfalls auf die Fotos zu sehen. Wie schon beim ersten Mal krampfte sie sich bei dem Anblick ihrer toten Freundin innerlich zusammen. Aber sie stellte erstaunt fest, dass sie es dieses Mal wesentlich besser ertragen konnte. Möglicherweise lag es daran, dass sie die Bilder schon kannte und auf das vorbereitet war, was sie erwartete. Vielleicht war es aber auch das Gefühl, alles nicht mehr ganz allein durchstehen zu müssen.
Ganz in Ruhe gingen Tess und Ryan die Fotos durch, wobei Tess auf jedes Detail einging und genau erklärte, was es damit auf sich hatte. Als eine Großaufnahme von Joannas Händen an der Reihe war, fiel es ihr jedoch schwer weiterzusprechen.
»Joanna muss sich mit aller Kraft gegen ihren Mörder gewehrt haben«, bemerkte Ryan nach einem Blick auf die vielen Schnittwunden, die sich über die Handflächen und sämtliche Finger zogen.
Tess schluckte schwer. Ihre Kehle fühlte sich rau wie Sandpapier an und ihre Stimme war heiser, als sie weitersprach. »Joanna war stark, eine echte Kämpferin. Aber was sollte sie schon gegen ein großes Messer mit scharfer Klinge ausrichten?«, fragte sie leise. Sie blätterte weiter und zog das Foto des blutigen Küchenmessers hervor.
»Wir haben das Messer aus der Küche meiner Tante mitgenommen, für das Picknick. Ich habe es immer gern benutzt, weil es so schön scharf war. Kurz davor habe ich noch Obst damit geschnitten.« Als Tess aufsah, standen Tränen in ihren Augen. »Hätte ich das Obst doch bloß schon vorher geschnitten und dieses blöde Messer hiergelassen!«
Sofort legte Ryan die Bilder zur Seite und wandte sich Tess zu. Sanft legte er ihr die Hand auf den Arm und sah sie eindringlich an. »Was immer passiert ist, ist nicht deine Schuld, verstehst du? Schuld hat ganz allein derjenige, der zugestochen hat!«
Schließlich nickte Tess zaghaft. »Ich weiß. Es ist nur …« Sie seufzte und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Ich frage mich immer wieder, was passiert wäre, wenn ich an diesem Abend irgendetwas anders gemacht hätte. Wenn ich das Messer nicht mitgenommen hätte, oder wenn ich nicht zum Auto zurückgegangen wäre …«
»Dann wärst du jetzt vielleicht auch tot«, unterbrach Ryan sie ungeduldig. »Ich verstehe dich ja, aber hör auf, dir Vorwürfe zu machen, okay?«
Tess presste die Lippen aufeinander, doch dann nickte sie. »Okay, ich versuche es«, gab sie nach. »Lass uns weitermachen. Ich möchte das Ganze endlich hinter mich bringen.«
Sie legte das Bild von dem Küchenmesser zur Seite. Als Nächstes folgte das Foto eines Armbands, das in einer kleinen Blutlache auf einem flachen Felsen lag. Es bestand aus einer zierlichen Silberkette, an der kleine Silberkugeln und sternförmig geschliffene Türkise baumelten.
»Was ist das?«, wollte Ryan wissen.
»Joannas Armband. Sie muss es verloren haben, als sie sich gegen den Angreifer verteidigt hat.« Tess lächelte traurig. »Ich habe das Gleiche. Und die anderen Mädchen aus Shadow Lake, die mit uns in einer Klasse waren, auch. Wir haben es uns bei einem Schulausflug als Souvenir mitgebracht. Es gab uns ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Aber nach Joannas Tod habe ich es nicht mehr getragen. Irgendwie hatte ich immer dieses Bild vor mir, das Armband in der Blutlache.« Sie verzog das Gesicht. »Die Einzige, bei der ich das Armband dann noch gesehen habe, war Millie.«
»Millie Walls? Die Millie, die auch auf der Liste steht?«, hakte Ryan nach.
Tess nickte. »Irgendwie gruselig, oder?«
Ohne
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