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Seefeuer

Seefeuer

Titel: Seefeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Megerle
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vermutlich irreparabel geschädigt hatte, empfand er
kein Mitleid und schon gar keine Reue. Im Gegenteil: Dieser Mann hatte vier
seiner besten Freunde auf dem Gewissen. Er selbst konnte von Glück reden, dass
er diesem Teufel in Menschengestalt in letzter Sekunde entkommen war.
    Dennoch war die Gefahr nicht endgültig vorüber. Ohne
seinen Gegner aus den Augen zu lassen, trippelte Pohl vorsichtig die Balustrade
entlang, dem Ausgang zu. Doch offenbar verfügte der Mann über einen siebten
Sinn, schien Pohls Bewegung geahnt zu haben. Mit vorgestreckten Armen, mehr
unsicher tastend als zielsicher greifend, drang er erneut auf den Anwalt ein.
Instinktiv ging Pohl in die Knie, sodass der Mann ins Leere griff. Ungestüm und
fast blind, wie er war, versäumte er dadurch, seinen Schwung rechtzeitig
abzubremsen, stieß mit den Füßen an den vor ihm kauernden Pohl – und hing
plötzlich mit dem Oberkörper frei über dem Abgrund, drohte in die Tiefe zu
stürzen.
    Vielleicht hätte der Mann sich noch einmal fangen,
hätte mit den Händen nach dem Geländer greifen und sich daran festhalten
können, hätte Pohl, von dem auf ihm liegenden Körper an die Balustrade
gepresst, nicht versucht, sich aufzurichten. Ein Fluchtreflex, nichts weiter –
und doch raubte er mit seinem letzten, verzweifelten Aufbäumen dem Mann den
einzigen Halt, hebelte ihm beim Aufstehen regelrecht die Beine aus, sodass er
endgültig das Gleichgewicht verlor. Begleitet von einem infernalischen Schrei
stürzte der Mann über das Geländer.
    Das ist das Ende, dachte Pohl – Gott sei Dank nicht
meins! Jetzt erst, nach überstandener Gefahr, begann er, am ganzen Körper zu
zittern. Jede Sekunde erwartete er den Aufschrei der Menge, wenn der fallende
Körper auf dem Pflaster des Münsterplatzes aufschlug.
    Als er ausblieb, drehte er sich um und blickte
vorsichtig über die Brüstung.
    Der Anblick traf ihn wie ein Keulenschlag: Dicht unter
ihm, nur wenige Handbreit entfernt, hing der Mann, klammerte sich mit beiden
Händen krampfhaft an einen der bronzenen Wasserspeier, die an den Ecken des
Turmes gut anderthalb Meter in die Luft hinausragten. Pohl war entsetzt. Hatte
dieser Mann das ewige Leben? Wie lange musste er dieses blutig entstellte
Gesicht denn noch ertragen?
    Er bückte sich nach seinem Jagdhorn, beugte sich weit
hinaus und hieb wie von Sinnen mit dem Instrument auf die Hände des Mannes, der
wimmernd an dem Wasserablauf hing und mit dem Tode rang.
    ***
    »Sind
Sie wahnsinnig? Hören Sie auf, Pohl!« Mit einem Hechtsprung schoss Preuss als
Erster durch die Tür, kaum dass sie die Plattform erreicht hatten.
    Wolf bekam gerade noch mit, wie er den Anwalt
zurückriss und ihm das Jagdhorn entwand. Dann sah er den Mann an dem
Wasserspeier hängen. »Halten Sie aus, wir helfen Ihnen!«, rief er ihm zu und
machte bereits Anstalten, sich über die Brüstung zu lehnen, als Preuss ihn
unsanft zur Seite drängte. Von dem für seine Verhältnisse viel zu hastigen
Aufstieg entkräftet, überließ Wolf dem jüngeren Kollegen das Feld und übernahm
stattdessen, zusammen mit Marsberg, dessen Sicherung.
    Schon hing Preuss in waghalsiger Stellung weit über
der Balustrade und reckte seine Hände dem Mann entgegen, der wimmernd über dem
Abgrund hing.
    »Versuchen Sie, eine Hand zu lösen, damit ich Sie
fassen kann«, rief er dem Mann zu. Wolf war nicht sicher, ob ihn der andere
gehört hatte. Das völlig verunstaltete Gesicht zeigte keinerlei Regung. Dennoch
musste er Preuss’ Aufforderung verstanden haben: Seine Züge begannen, sich
unter der Anstrengung zu verzerren, zaghaft versuchte er, Millimeter um
Millimeter die rechte Hand zu bewegen, mit der er sich an der glatten Oberseite
des Wasserspeiers festhielt. Wolf forderte ihn auf, fortzufahren, sprach ihm Mut
zu, obgleich er ahnte, was auf sie zukam: Wenn Preuss gelang, was er vorhatte,
musste er den kräftigen Mann nicht nur an den Händen fassen, sondern ihn auch
noch zu sich herüberziehen. Zwei Zentner, die gehalten werden wollten,
zumindest so lange, bis er ihn mit Marsbergs und seiner Unterstützung über die
Balustrade gehievt hatte. Würde Preuss das schaffen?
    Zunächst sah alles gut aus. Mit äußerster
Kraftanstrengung schob der Mann seine rechte Hand in Richtung seiner Retter.
Stöhnend führte er die linke nach, kam näher und immer näher, bis ihn nur noch
wenige Zentimeter von Preuss’ ausgestreckter Hand trennten.
    Ein paar läppische Zentimeter – und doch ein paar
Zentimeter zu viel!
    War es

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