Seefeuer
Füße verloren den Kontakt zum Boden. Er wusste: Sein
Ende war gekommen! In der nächsten Sekunde würde er über die Brüstung stürzen,
würde fliegen, fliegen, fliegen … wie der Mann es ihm prophezeit hatte.
***
Irgendetwas
an Kalaschnikows Worten hatte Wolf ins Grübeln gebracht. Was war es nur
gewesen? Noch einmal rief er sich das Gespräch vor dem Einsatzwagen ins
Gedächtnis. Kalaschnikow hatte auf den Vertrag mit Pohl gepocht, als er nach
Paco fragte. Wolf hatte ihn wegen des dämlichen Plans mit den Landsknechten
zusammengestaucht und ihm vor Augen gehalten, dass Philip erst durch seine
Leute auf den Turm …
In diesem Moment machte es bei Wolf klick. Dass er da
nicht eher draufgekommen war! Wieso sollte Philip einem bewaffneten Landsknecht
hinterherlaufen, diesem seine Hellebarde entreißen und in Ermangelung einer
eigenen Waffe damit sein Opfer bedrohen? Zwar hatte sich alles genau so
abgespielt. War Philip aber deswegen auch zwingend der gesuchte Mörder?
Vielleicht hatte der Täter ja noch gar nicht versucht, auf den Turm zu
gelangen. Womöglich war er in ebendiesem Moment dabei, Pohl den Garaus zu
machen, jetzt, wo Wolf alle Kollegen abgezogen hatte – bis auf Preuss. Voller
Unruhe stieg er aus dem Wagen. Er musste sich mit eigenen Augen davon
überzeugen, dass er einem Hirngespinst nachjagte.
Auf dem Weg zur Turmpforte warf Wolf einen Blick zur
Plattform hoch – da blieb ihm beinahe das Herz stehen. Gleich hinter der
Balustrade nahm er eine Bewegung wahr, eine äußerst beunruhigende Bewegung. Es
sah aus, als würden da oben zwei Menschen miteinander ringen. Immer wieder
blitzte etwas auf. Das konnte nur Pohls Jagdhorn sein. Im selben Augenblick
meldete sich Preuss. Er klang atemlos, als würde er im Laufschritt sprechen.
»Was gibt’s?«, fragte Wolf.
»Irgendetwas auf dem Turm ist oberfaul. Bin auf dem
Weg nach oben.«
»Warte. Wir kommen mit.«
Im Laufen verständigte Wolf Jo und Marsberg. Wenige
Augenblicke später rannten sie zu viert nach oben. »Hartmut, konntest du den
Mann erkennen?«, japste Wolf atemlos.
»Nein. Mir ist das Ganze ohnehin ein Rätsel. An mir
ist garantiert niemand vorbeigekommen«, gab Preuss gepresst zurück.
»Gleich wissen wir, was los ist. Jetzt spart euch die
Luft, Leute«, schloss Marsberg den Disput.
***
In
seiner Todesangst mobilisierte Pohl die letzten Kräfte. Er wusste: Sobald es
dem Angreifer gelang, seine linke Hand vom Geländer zu lösen, wäre er verloren.
So klammerte er sich nur noch fester daran und trat dazu wild mit den Armen und
Beinen um sich – bis plötzlich ein tierischer Schrei über die Plattform gellte.
Als wäre er betrunken, begann sein Gegner zu taumeln,
machte ein paar kurze, unbeholfene Trippelschritte nach hinten, weg vom
gähnenden Abgrund, den Anwalt dabei mit sich ziehend. Seine Fäuste lösten ihren
Griff, Pohl war wieder frei.
Unendlich langsam, wie in Trance, hob der Mann die
Hände, tastete über sein blutverschmiertes Gesicht, hinauf zum linken Auge –
genauer gesagt: zu der Stelle, an der sich sein linkes Auge einmal befunden
hatte. Jetzt war dort nur noch eine einzige breiige, blutige Masse.
Pohl musste in seiner Verzweiflung dem Mann das
Mundstück des Jagdhorns, das er die ganze Zeit umklammert gehalten hatte,
direkt ins linke Auge gestoßen haben!
Beim Anblick der Verletzung spürte der Anwalt ein
Würgen im Hals, er war nahe daran, sich zu übergeben. Kraftlos entfiel das
Instrument seinen Händen, scheppernd schlug es auf dem Steinboden auf.
***
Als
sie an der Tür vorbeihasteten, die ins Dachgestühl des Langschiffes führte,
verlangsamte Preuss für einen Augenblick seine Schritte. Im Vorübergehen
drückte er gegen die Tür. Zur grenzenlosen Verwunderung der Beamten schwang sie
auf.
Jetzt war alles klar! Hier also hatte sich der Typ
versteckt gehalten, schoss es Wolf durch den Kopf. Von wegen, »an diesen
Schlüssel kommt keiner ran«! Doch egal jetzt, nur weiter, Stufe um Stufe höher,
den anderen hinterher. Die Luft wurde immer knapper, die Knie immer weicher,
bald würden auch die Arme den Dienst versagen, mit denen er sich am hölzernen
Handlauf nach oben zog.
Plötzlich hörten sie von oben einen Schrei.
»Schneller!«, drängte Wolf und gab noch einmal alles.
Vor ihm beschleunigten auch Preuss und Jo ihre Schritte, nahmen zwei Stufen auf
einmal, dicht gefolgt von Marsberg.
***
Pohl
wandte den Blick ab. Er witterte seine Chance. Obwohl er die Wunde verursacht
und das Auge des Mannes
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