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Seehamer Tagebuch

Seehamer Tagebuch

Titel: Seehamer Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Lyzeums zu schnitzen.)
     
     
     

20. August abends
     
    Vieuxport gleicht einer Wabe aus überhohen Häusern. Spielende Grautöne über stinkendem Wasser, das Ganze von Schmutz und Verfall schillernd wie Perlmutter und doch herzbewegend schön. Ich erkannte es sofort: es ist der Hafen aus der »Prinzessin Anthaja«, Michaels letztem Roman. »Warst du schon mal hier?« rief ich ihm zu, als wir einfuhren und er gebückt über der Ankerkette stand. »Nein«, sagte er, selber erstaunt. »Wieso hast du es dann so genau beschrieben?«
    »Weiß ich auch nicht«, meinte er bescheiden und kümmerte sich um Backbord und Steuerbord.
    Mit Schriftstellern muß man reisen. Da erlebt man Überraschungen.
     
     
     

21. August
     
    Italienisch konnte ich nur ein bißchen verstehen, wenn ich mit Klabauterfrau einkaufen ging (die als Inbild blonder Schönheit gelten darf und mit einem mezzokilo Kalbsschnitzel auch immer gleich ein mezzokilo wohlverdienter Komplimente feuriger Fleischhauer mitbekommt). Sprechen kann ich kein Wort. Seit gestern sind wir im französischen Sprachraum. Das erste schmutzige Kind, das auf dem Kai seinem Teddybär das Laufen beibrachte, verstand mich und lächelte. Der Perlenvorhang der Sprache teilte sich und ließ mich ein in das fremde Land.
     
     
     

23. August
     
    Überall Napoleonstatuen, Napoleonandenken. Auf dem Promenadeplatz in Bastia sitzt er halbnackt auf einem Marmorsessel, ein marmornes Badetuch umgeschlungen, einen Speer in der Rechten, als käme auch er vom Fischestechen. Um ihn herum ergehen sich, zu zweit und dritt, Arm in Arm, die jungen Mädchen. (Ich kann nicht unterscheiden, ob sie 13 oder 20 sind.) So manche Rassenmischungen hat der Hafen Bastia im Lauf der Zeit zusammengetragen. Honigfarbene Haut, die geschwungenen »Hindinnenaugen«, die daheim die Mannequins sich mit viel Mühe anschminken. Und Taillen! Taillen wie die Oberschenkel der Seehamer Weiblichkeit.
     
     
     

25. August
     
    Die Molenmauer hat die Sonne gespeichert. Im Salon der »Arabella« zeigt das Thermometer 30 Grad. Selbst in der Hafenkirche ist es erschreckend und ungewohnt lauwarm. Bis Mitternacht sitzen wir an Deck, ganz gelöst, ganz zufrieden. Wie viele Seelen- und Körperkalorien ich daheim immer verbrauche, nur damit mir warm ist! — Manchmal erzählt einer was (halblaut, weil man uns an Land und auf den anderen Schiffen hören kann), ein Zigarettenfünkchen glimmt. Wir überlegen, wie unendlich leicht man Menschen von Hafen zu Hafen, von Land zu Land schmuggeln könnte. Wie aufregend das wäre; welche Komplikationen es gäbe, wenn es ein verfolgter Kronprinz, ein schöner, junger Potentat (ein gestürzter) wäre und wir ein junges Mädchen an Bord hätten. Ein Filmstoff vielleicht. Ein heiterer Sommerroman. — Mit leichtem Zerren, rheumaähnlich, meldet sich aus der Ferne der Existenzkampf und die Lage des freien Schriftstellers. Aber das alles ist so weit fort.
     
     
     

29. August
     
    Am Kai ist ein kleiner Altar, eine nachgemachte Lourdes-Grotte. Eine schwarzgekleidete, zahnlose alte Korsin, deren Mann auf dem Meer geblieben ist, zündet jeden Abend Kerzen davor an. Sie brennen lange, bis gegen Mitternacht. Die Bevölkerung, die keine Lust hat, in ihre Backöfen von Wohnungen heimzukehren, pilgert davor hin und zurück. Die Alten und die Schwangeren bleiben stehen oder schlagen das Kreuz, die Kinder hebt man hoch, und sie werfen der Jungfrau eine fette, schmatzende kleine Kußhand zu. Die jungen Liebespaare aber gehen abwesend und miteinander beschäftigt vorüber. Wie rührend sie sind in ihrer trotzigen Zuversicht, aus dem ewigen Kreislauf ausbrechen zu können.
     
     
     

30. August
     
    Die anderen schnorcheln stundenlang. Man sieht von ihnen nur das Lämpchen des Schnorchels und den Bade-Hosen-Boden über der Wasseroberfläche dahinschleichen. Klabauterfrau hat sich in einen jungen Rochen verliebt und schwimmt vor und nach Tisch zu der Stelle, wo er im Sand liegt und vergnügt nach oben schielt.
    Man kann auch unter Wasser schwindlig werden. Abgründe grünlichblauer Tiefe, in denen Algen wehen, lassen mich erschrocken auftauchen. Aber es ist wunderbar, den Fischen so nah ins Gesicht zu blicken und zu spüren, daß die Sonne auch sie wärmt, nicht nur uns.
     
     
     

31. August
     
    Dies hier — die Bucht von Stagnola — ist ein unberührtes Paradies, an den Ufern dichte Macchia voller Domen, die nach Terpentin duftet, seichte Lagunen ins Land hinein, halb Salz-, halb

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