Seehamer Tagebuch
schaltet sie ab, was allen Aussagen etwas Hektisches gibt.
Und dann folgte der edle Wettstreit, welcher der beiden Teilnehmer noch einmal anruft. Der Neugierigere? Der Nervösere? Der Großzügigere!
29. September
Auf dem Wege zur Post kamen wir wieder an der Stelle vorüber, von der aus die Sensationen in unser friedliches Dorf einbrechen: am Zeitungsständer der Papierhandlung. Die Überschriften der Blätter folgen einem Schema (über Jahre hin dem gleichen), dem die europäischen Fürstlichkeiten unterworfen werden. Es beginnt dort, wo die Marlittromane enden: »Endlich vereint... Auf dem Gipfel des Glücks... Dunkle Wolken am Hofe... In tiefer Sorge um den Ehemann... Intrigen bedrohen das Glück des Paares... Süßes Geheimnis... Süßes Geheimnis nein doch nicht... Süßes Geheimnis offiziell... Zittert um das Leben seiner Fürstin... Ärzte sagen schwere Entbindung voraus... Jubel am Hofe über den Sohn... Fürstin zittert um ihr Kind... Dunkle Wolken (siehe oben)... Wird der Fürst kühler... Fühlt sich vernachlässigt... Intrigen bedrohen... (siehe oben)... Heimliche Tränen im Palast...
An den Schlagzeilen hatte sich während unserer Abwesenheit so gar nichts geändert, daß wir stehen blieben und lachten. Es war nur inzwischen ein anderes Fürstenpaar aufgerückt. (Es besteht keinerlei Hoffnung, daß diesen Blättern die Heldinnen ausgehen.)
1. Oktober
Der Junge ist in seine Kaserne abgereist. Für ein Jahr? Für anderthalb? Jetzt bestimmen die Gesetzgeber, nicht mehr wir Eltern. Ich ließ ihn von seinem Vater zur Bahn bringen, um nicht durch Zurschaustellung meines Trennungswehs den Eindruck zu vermitteln, ich beurteilte die Berlin-Krise falsch. (Wir sind alle schlecht im Abschiednehmen, ein Familienübel.) Hier handelt es sich gar nicht um die Zeitspanne bis zum ersten Urlaub, sondern darum, daß er unvermutet erwachsen ist. Ich habe diesen Zeitpunkt unter irgendwelchen Vorwänden immer wieder hinausgeschoben.
Als das Auto fort war, machte ich mich daran, die beiden Stiche im Gästezimmer umzuhängen. Es ist unmöglich, gleichzeitig zu weinen und einen Nagel mit dem Hammer zu treffen.
4. Oktober
Wir waren mit Freunden an einem Gebirgssee, fern jeder menschlichen Siedlung, unter einer Felswand. (Die Lärchen, brennendgelb, zogen sich den Hang hinauf, als flackerte ein Feuer.) Niemand wohnt dort, nur das Echo. Feucht rieselt es vom Berg, nachts im Mondschein tanzen die Elfen an den schilfigen Ufern. Und beim Ausfluß, wo der muntere Gebirgsbach entspringt, staut sich das, was man als die Pest unseres Jahrzehntes bezeichnet: Schaum. Irgendein Spül- oder Waschmittel. Eine der Elfen muß sich bei — Mondschein eine Non-Iron-Bluse gewaschen haben.
6. Oktober
Endlich sind die Farbdias fertig gerahmt. Strahlend und völlig geruchlos entsteht der Süden vor unseren Augen. Von den üblichen Zwischenrufen abgesehen (»Wo soll das denn sein: Porto Ferraio?«
»Himmel sehe ich aus, du hättest auch was sagen können, ehe du losknipst!«
»Ha, Captains Unterhose schaut vor!«) erfüllte uns schweigende Dankbarkeit. Es scheint, als ob auch eine Mittelmeerreise, wie das Glück, nicht etwas ist, das man erlebt, sondern etwas, woran man sich erinnert.
9. Oktober
Es kam ein Mann und schlug vor, ich solle doch die Reise auf der »Arabella« zu einem heiteren Sommerroman machen. (Er sagte »gestalten«.) Natürlich müsse ich noch etwas dazu erfinden, die Wahrheit sei etwas langweilig, weil keine Liebesgeschichte an Bord spiele. (Die zwischen Michael und mir ist zwanzig Jahre alt und gilt als passé.) Ob nicht, da es sich doch um zwei Ehepaare handele, ein Ehebruch etwas Farbe hineinbrächte — eine Liebesgeschichte über Kreuz, verbesserte er hastig. (Ein guter Mensch, er wollte nicht, daß einer zu kurz käme.) Im Erfinden sei ich nicht gut, gestand ich. (Er merkte, daß ich der Sache über Kreuz nicht nähertreten wollte.) Dann vielleicht ein fescher Matrose auf einer der Nachbarjachten? Bei meinem köstlichen Humor könnte das doch eine reizende Sache werden...
10. Oktober
Der Mann von gestern ist inzwischen, auch ohne auf der Kommandobrücke mit uns Whisky zu trinken, auf unsere damalige Idee gekommen, ein bißchen Menschenschmuggel mit hineinzunehmen. Die »Arabella« soll einen abenteuerlichen Hafen anlaufen, und ich soll dort ohne Wissen der übrigen einem Flüchtling (gestürzter Potentat, jung,
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