Seehamer Tagebuch
Tante? »Kinder, die schlechte Jahreszeit kommt, wir wollen einander noch lieber haben!«
25. Oktober
Wie oft streift man in Todesanzeigen die unbekannten Namen mit flüchtigem Blick. Und in den kargen Daten versteckt sich das tragische Schlußkapitel eines bewegten Familienromans.
»... bis 45 Professor an der Universität Prag. Mit ihm erlischt die Familie. Falls die Bewilligung hierzu erteilt wird, werden die heiligen Seelenmessen in der Pfarrkirche Mährisch-Krumau gelesen.«
»Es starb als Ostflüchtling H. v. V., Herr auf Westernhagen, Kleinrotsand und Wirbendorf, im 71. Lebensjahr.«
Die Unterzeichner, seine Kinder und Kindeskinder, sind in deutschen Großstädten angespült worden oder haben in fremden Erdteilen von vorn angefangen. Die Kette jahrhundertealter Tradition ist gerissen. Und obwohl »der Derwisch das Leben eine Reise nennt«, klingt der Jammer um das Verlorene am Grabe noch einmal auf. (Und wer schickte nicht auch als Fremder einen flüchtigen Gedanken zu den verlassenen, vielleicht verkommenen Herrensitzen, auf denen das Unkraut zwischen den in Generationen zusammengefügten Steinen aufschießt?)
30. Oktober
Wie merkwürdig verändert das Haus ist ohne den Jungen, alles bleibt andauernd sauber, und wenn ich mich beim Kochen nur ein bißchen gehenlasse, geraten die Portionen viel zu groß, und es gibt tagelang Reste. — Das Wiedersehen mit ihm am Sonntagnachmittag in einem Restaurant seines Standortes war vergnügt und ergreifend zugleich. Er lernt vieles in dieser militärischen Welt, das ihm nützen wird; nicht zuletzt, daß die menschliche Würde viel tiefer innen sitzt, als man für gewöhnlich annimmt, und durch Angeschrienwerden nicht zu verletzten ist. — Er und sein Vater sprachen — verbunden durch eine geheimnisvolle Kumpanei — über das »Robben zehn Zentimeter unter der Grasnarbe«. Sie lachten, sie verstanden einander als Fachleute. Ich unterdrückte mühsam die Frage, ob er auch warm genug angezogen sei. — An einer Papierserviette des Restaurants suchte ich ihm zu zeigen, wie man ein Loch in der Hose flickt. Beim Abschied betrachtete ich beklommen Zaun und Tor der Kasernen. Von Lichtern angestrahlt, bewacht, abgeschlossen, Posten. Warum lernt das Auge so schwer, dergleichen harmlos zu sehen?
3 . November
Das Dorf kriecht, weiter und weiterbauend, an uns heran. Es ist wie beim Spiel »Ochs am Berg«. Drehen wir uns unvermutet um, sind die Häuser schon wieder einen Schritt näher gekommen. Die vielen Abwässer bedrohen unseren Trinkwasserbrunnen. Wenn der Inhalt der Versickergruben, durch den Kies der Endmoränen gefiltert, in unserem Zahnputzbecher ankommt, ist es zu spät. Wir müssen uns daher an die Wasserleitung anschließen. Ich schließe mich schwer an, selbst an eine allgemeine Wasserleitung.
6. November
Der Bagger hebt den Graben für die Wasserleitung aus, da er aber an seinem Rüssel nichts fühlt, müssen die beiden Telefonkabel und der Anschlußhydrant vorsichtig mit der Hand ausgegraben werden, weil sonst an dem der Gemeinde entstandenen Schaden noch unsere Enkel abzahlen. Wir finden niemanden zum Graben, auch für sehr viel Geld nicht. Das Bitten, die Irrwege, die schwachen Hoffnungen bei neuen Ratschlägen: es war wie ein Rückfall ins Jahr 1946.
Drei Personen wollten gerne mit uns graben: ein Arzt, zwei Schriftsteller. Irgend etwas scheint im sozialen Gefüge nicht mehr zu stimmen.
8. November
Alles ist gut vorüber. Wir haben nun Wasser von fernher. Es schmeckt genau wie immer, hat aber einen solchen Druck, daß ich mich nach Hantierungen am Ausguß umziehen muß.
Eines jedoch bringe ich nicht fertig: den Brunnen, der uns dreißig Jahre lang versorgt hat, zuschütten zu lassen. Die Betonröhre, aus der es nach Kalk, Gebirge und Schneeglöckchen riecht, lädt sich nachträglich mit ungeheurer symbolischer Bedeutung auf. Dieses stille Wasserauge, das jetzt in den Himmel blickt, hat die besorgten Gesichter der Eltern gespiegelt, in dem Dürre-Sommer; als der Meinige vor vielen Jahren das Ansaugrohr verlängerte, trug er noch die alte Uniformhose. Wir mußten Dicki festhalten, damit er nicht hinunterfiel. Nein, ich lasse den Brunnen nicht zuschütten.
Da jeder Entschluß zwei Gründe hat, einen und dann den wirklichen, habe ich gesagt, daß die Zeiten sich wieder ändern können und man einen Brunnen immer braucht.
13. November
Es gibt Tage, an denen
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