Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seehamer Tagebuch

Seehamer Tagebuch

Titel: Seehamer Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
Vom Netzwerk:
behauptet man kindisch aufsässig (mit einer Stimme, die eine gute Quint zu hoch ist), man könne nicht leben unter dieser ständigen Bedrohung, dieser ständigen Angst. Was gäbe es denn noch, fragt man schrill, in das Chruschtschow nicht seine häßlichen Vorderzähne sträube? Es sei ja geradezu eine Tat des Mutes, sich etwas anzuschaffen, das man in zwanzig Jahren noch in Ruhe zu benutzen hofft.
    Gestern war ich soweit, derlei Reden zu führen. Vielleicht, weil ich so schrecklich kalte Füße hatte. Schon wieder still und etwas geniert, stieß ich im Kinderbuch auf ein altes Gedicht, das lautet: »Bet, Kindel, bet. Morgen kommen die Schwed’, morgen kommt der Ossenstern, der wird das Kindel beten lehr’n.« Sollte der Oxenstierna, dessen grausamer Ruhm als Drohung bis zu den Kinderbetten drang, besser gewesen sein als Väterchen Nikita? Hatte es 1630 Sinn, zu säen, zu ernten, das Haus zu reparieren, den Polsterstuhl neu beziehen zu lassen, wenn die Schweden morgen kommen und brandschatzen, quälen und töten konnten? Wenn sich etwas überhaupt lohnt, scheint es sich auch unter ständiger Vernichtungsdrohung zu lohnen. — Der heilige Franziskus hat, wenn ich ihn recht verstanden habe, dies gemeint, als er auch in seiner letzten Lebensstunde noch seinen Garten weiter umgraben wollte.
     
     
     

17 . November
     
    Wenn die Nachbarin, die unvergessene, mir Äpfel einwog, legte sie, sobald die Waagschale nach unten zog, noch einen letzten Apfel obenauf. Maß und Gewicht kommt vor Gottes Gericht.
    Wenn ihre Tochter mir die Milch einschüttet, gibt sie noch einen halben Schöpflöffel voll dazu. Sie sagt dabei dasselbe. Auf dem Lande hat man nicht Zeit, neue Formulierungen zu erfinden. Aber Ehrlichkeit in allen Dingen scheint noch die höchste Tugend. Hier draußen.
    In den Berichten des Fundbüros lese ich, daß kaum noch jemand kommt und seine Sachen dort abholt. Eine Trambahnfahrt dorthin ist den Verlierern zu mühsam. Der Schirm, die Tasche, der Mantel, sie sind ja doch weg, denn die Leute sind nicht mehr ehrlich heutzutage, sagen sie. Ich lese von dem Amerikaner Johnson, der 240 000 Dollar in einem Sack auf der Straße fand und sofort zurückgab. Er bekam außer dem Finderlohn und öffentlichem Lob sackweise Briefe. »Kaufen Sie sich einen Strick und hängen Sie sich auf, Sie Idiot.« »Gehen Sie zum Nervenarzt!« »Kein Wunder, daß Sie arbeitslos sind, Sie sind fürs heutige Leben ungeeignet!« »Sie Narr, die Banken haben Millionen, die paar Kröten hätten der Verlierer-Bank nicht wehgetan!« »Hätten Sie das Geld wenigstens ein paar Tage behalten und mit Hilfe eines Rechtsanwalts den Finderlohn höhergetrieben.« Andere wieder ertränkten ihn fast mit Dankbarkeitshymnen, und er mußte auf Versammlungen sprechen. Nur, daß er etwas Selbstverständliches getan hatte, fand niemand.
    Wann hat sich im allgemeinen Sprachgebrauch der Ehrliche in den Dummen, der Nicht-ganz-Ehrliche in den »geriebenen Burschen«, also einen bewunderungs- und nachahmenswürdigen Übermenschen verwandelt? Irgendwann zwischen meiner Schulzeit und jetzt muß es doch passiert sein?
     
     
     

18. November
     
    Die Herbstnebel werden schon sehr dicht. Schwebend und losgelöst, auf perlmuttfarbenen Wassern treibt unser Haus dahin, eine Arche Noah, in die sich Katzen, Igel und Mäuse retten. Tuschelnd und wispernd fallen noch immer Blätter, anzuhören wie eine Zuschauermenge, die mit dem Stück nicht zufrieden ist.
    Vor etwa zwei Jahrzehnten (als ich noch glaubte, die Höhepunkte meines Lebens hätten gefälligst dann stattzufinden, wenn ich gerade mein schwarzes Abendkleid anhatte) liebte ich es, mich um diese Jahreszeit in melancholische Rilke-Texte zu vertiefen. Oh, wie konnte ich es damals nachfühlen «... wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr, wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben...« Heute gehe ich um diese Zeit an die Mottenkiste und hole dicke Pullover und lange Unterhosen heraus.
     
     
     

20. November
     
    Aus den Zeitungen fallen Reklamebeilagen, die mich kategorisch auffordern: Schon jetzt an Weihnachten denken. (Ich bekomme immer schlechte Laune, wenn jemand mir vorschreibt, woran ich denken soll.)
    Nun beginnen also wieder die schlimmen Wochen, denen man nur als ganz starke Persönlichkeit gewachsen ist. Wem womit Freude machen? Macht man ihm denn noch eine? Muß er sich dann nicht bloß revanchieren? Praktisch schenken! Unpraktisch schenken! Mit Herz schenken! Keinen vergessen! Für den verwöhnten

Weitere Kostenlose Bücher