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Seehamer Tagebuch

Seehamer Tagebuch

Titel: Seehamer Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Geschmack! Für die, die sich das Beste gönnen!... Und wie ist es mit denen, die sich nichts gönnen dürfen, weil es kaum zum Notwendigsten reicht... mit den Einsamen... den Vergessenen... den lieblos Behandelten... mit der Selbstmordserie... mit den Eltern, die ihr Bankkonto überziehen, damit die Kinder am Heiligen Abend nicht enttäuscht sind, weil ihre durch den Schaufensterrummel hochgeschraubten Ansprüche ins Ungeheuerliche gewachsen sind? Woher die Kraft nehmen für die ruhigen Stunden mit der Familie, für das, was der Kern des Festes ist, bei dieser beständigen Aufforderung zur organisierten Weihnachtsfreude, einer Aufforderung, die wochenlang anhält?
    Meinetwegen, ich werde schon anfangen, daran zu denken. Daran, ob man es dies Jahr nicht besser machen kann.
     
     
     

24. November
     
    Heute mußte ich unser Grab an der kleinen Pestkirche für den Winter mit Zweigen zudecken. Immer wieder bin ich erstaunt darüber, wie wenig meine Toten wirklich dort sind, wie sehr ein Grab nur eine Art Bahnsteig ist, von dem sie abgereist sind. In fast unpassender Eile gehe ich heim. Hier, wo wir leben, von ihnen sprechen und an sie denken, hier sind sie.
     
     
     

25. November
     
    Es liegt gar nicht an den Absendern, daß die Weihnachtspäckchen trotz flehentlicher Bitten der Post nicht früh genug aufgegeben werden. Es liegt an den Empfängern. Wenn ich bestimmt wüßte, daß sie mein Päckchen in verpacktem Zustand unten in den Kleiderschrank legen, daß sie nicht mit einem »O Gott, na dann müssen wir ihr wohl auch was schicken...« reagieren und es nicht aus Neugier auf einen vielleicht darinliegenden Brief trotz befehlender Aufschriften öffnen, dann wäre ich geneigt, schon heute...
     
     
     

26. November
     
    Wir mußten ins Rheinland und wählten Umwege. Die Fahrt durch die stumpfen Packpapierfarben der Wälder und das verschleierte Steingrau war sehr schön. Alles hatte die Töne alter Gobelins.
     
     
     

29. November
     
    Alle Welt ist sehr lieb zu uns und durchforscht die Veranstaltungskalender, um uns etwas zu bieten. Da gibt es zum Beispiel ein Theaterstück, bei dem werden Gegenstände ins Publikum geworfen, und ein Schauspieler rezitiert, auf dem Kopf stehend, die Rede des Saint-Just aus »Dantons Tod«. (Er kann unmöglich gut rezitieren, wenn ihm seine Innereien so auf die Atmung drücken. Ich habe es im fremden Gästezimmer sofort ausprobiert.) Das Aufregendste, sagten uns Eingeweihte, soll die Musik zu dem Stück _ sein: Ungefähr wie das Geräusch einer Bahnhofshalle während des Umbaus. — Ich lehnte den Besuch des Stückes ab, etwas betreten, weil sich in mir der Verdacht bestärkt, daß ich zu den »ewig Gestrigen« gehöre. Zum Ausgleich versprach ich, morgen in die abstrakte Ausstellung zu gehen.
     
     
     

30. November
     
    Daß ein Chinese aussähe wie der andere und ein abstraktes Bild wie das andere, will nur unser ungebildetes Auge uns weismachen. Nach wenigen Minuten begannen einige der Bilder mit Glockenton zu mir zu reden, andere blieben stumm wie Fische. Leider nicht stumm blieb ein junger Mann, augenscheinlich Experte, der mich an wies, mich zu den Gemälden »richtig einzustellen, indem ich mich von verschütteten Instinkten leiten ließ«.
    Schon dies empfand ich als gelinde Unverschämtheit. Aber es gab auch noch eine Sonderausstellung, bei der auf die mehreren Farblagen gemalten Bilder in letzter Minute feine Schrotladungen abgeschossen werden. Die Farblagen platzen ab, wie die Musen es wollen, und man hat dann — wie hieß es doch — man hat dann etwas ganz Persönliches. Sehr feinsinnige Leute kaufen das Bild erst und schießen dann selber hinein, weil sie hoffen, daß sich dabei ihr Unbewußtes manifestiert.
    Ich glaube, ich wurde deshalb so wütend, weil derlei Scharlatanerien Wasser auf die Mühlen derjenigen leiten, die noch immer blaubeerfarbene Mondscheinlandschaften und Kätzchen mit Knäuel an ihre Wände hängen.
     
     
     

2 . Dezember
     
    Da in Seeham Cocktailparties völlig fehlen, finde ich sie hier sehr reizvoll. Michael (mit höflichem Gesicht) leidet meist etwas dabei. Er meint, es sei absurd, wenn ein Atomphysiker, ein Psychiater und ein Schriftsteller um eine Schale Käsegebäck herumstehen und von nichts anderem zu sprechen wissen als vom Pegelstand des Rheins. Es ist heiß und voll, man freut sich, wenn jemand temperamentvoll auf einen einredet, weil dann Luftzug entsteht. Das einzige Kalte ist das hervorragende kalte Büfett.
    »In

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