Seeherzen (German Edition)
trafen auf Doris Shingle, die uns den Hügel herauf entgegenkam. «Sie ist wirklich schön», berichtete sie. «Seltsam schön, wenn ihr mich fragt. Sieht fremdartig aus – wie man wohl nicht anders erwarten kann, schließlich kommt sie nicht von hier.»
«Sind ihre Haare aus Seetang?», spottete Abby Staines. «Hat sie Saugnäpfe an den Fingern wie ein Tintenfisch?»
«Nichts davon», sagte Doris. «Sie hat nicht mehr viel Meerartiges an sich. Ihre Finger sehen aus wie deine oder meine, nur schmaler. Und ihre Haare sind auch feiner und so glatt wie gebügelt.»
Wir trafen auch nachdenkliche Männer, die weniger angespannt wirkten. Ihr Schweigen trug nicht gerade dazu bei, dass sich die Laune ihrer Frauen besserte.
Dann waren wir bei Fishers Laden angelangt. Sie hatten das Meermädchen ins Hinterzimmer verfrachtet, von dem zwei Türen zum Hauptgeschäftsraum abgingen, und nacheinander trat das ganze Dorf gemächlich durch die eine Tür hinein und zur anderen wieder hinaus. Einige von denen, die zur zweiten Tür herauskamen, beschrieben uns haarklein, was wir zu sehen bekommen würden; andere verdrückten sich schnell oder hielten den Kopf gesenkt und ließen sich nicht ausfragen. Diejenigen, die etwas erzählten, sagten alle etwas anderes – sie wäre ganz hübsch, sie wäre hässlich, sie wäre das entzückendste Ding, das jemals erschaffen wurde; ihre Haare wären wie Seide, wie Rattenschwänze, wie eine schlaffe Pferdemähne; sie wirkte mürrisch, sie lächelte wie ein Engel, sie wäre das strahlendste Wesen überhaupt; sie wäre von Spanien herübergeschwommen, sie stammte eindeutig aus dem Meer, sie hätte rein gar nichts an sich, was an die Unterwasserwelt erinnerte. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete, als ich mich schließlich mit den anderen in das Hinterzimmer drängte.
Fishers Frauen hatten das arme Ding in ein Kleid gesteckt, das ihr überhaupt nicht passte; traurig hingen die Puffärmel um ihre Schultern, und unter dem Saum baumelten ihre langen schmalen Schienbeine mit den zarten kleinen nackten Füßen hervor, die aussahen, als könnten sie so gut wie kein Gewicht tragen. Im Lichtschein des Fensters wirkte ihr Gesicht grünlich, und das Kleid hatte einen Gelbton, der sich damit biss.
«Sie sieht
krank
aus», tuschelte Hatty Marchant hinter mir jemandem zu.
Hinter mir drängten sich atmend und murmelnd die Leute herein und schoben mich weiter. Mag Fisher saß neben dem Mädchen und blickte finster in die Runde.
«Hat sie eine Stimme, so wie wir?», traute sich schließlich jemand zu fragen.
«Ich habe eine Stimme», hörte ich das Meermädchen deutlich sagen. Ihre Stimme war tief – und natürlich wunderschön – und ich meinte, einen Akzent herauszuhören. Ich wollte sie am liebsten gleich noch einmal hören, nur um sicherzugehen.
«Bleibt sie bei uns?»
«Genug gefragt», blaffte Mag. «Ich hab dieselben Fragen schon tausendmal beantwortet. Fragt die, die schon Bescheid wissen. Ich will nicht, dass ihr das Mädchen weiter bedrängt.»
«Wir bedrängen nicht
sie
, Mag, sondern
dich.
» Ein feixendes Gelächter lief durch die Menge.
So würde es von nun an sein: Die Frauen würden so tun, als wäre all das ganz alltäglich, als wäre das Mädchen nichts Besonderes, während ihr Liebreiz den Männern den Kopf verdrehte. Ich sah, wie sich ihre Augen an ihrem Haar festsaugten und über dessen gesamte Länge glitten, über ihre Gliedmaßen, den schlanken Körper unter dem entsetzlichen Kleid, wie sie den Mund aufrissen. Ich begann die Ausmaße dessen, was ich in jener Nacht in der Crescent Cove erschaffen hatte, zu erahnen. Welche Chance hatten diese Männer gegen die Macht meines gesichts- und herzlosen Strandschnecken-Mädchens? Die armen, wehrlosen Dummköpfe! Und die armen Frauen und Mütter! Ab sofort würden sie nur noch lästig sein. Sie konnten in den kommenden Wochen und Monaten kichern, kreischen und schluchzen, soviel sie wollten; niemand würde sie mehr beachten.
War es hübsch, das Mädchen aus dem Meer?
Seltsam schön
, hatte Doris gesagt, und ich fand, das war eine treffende Beschreibung. Dieses Gesicht hatte ich schon einmal gesehen – oder zumindest welche, die ihm sehr ähnlich sahen: das Porträt auf dem Dachboden der Strangleholds, die spanischen Tänzerinnen auf der Postkarte meines Bruders. Das Meermädchen hatte die gleichen Haare, die ihr Gesicht wie schöne schwarze Schwingen umgaben; auch ihre Augenbrauen zeichneten sich deutlich von der
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