Seeherzen (German Edition)
ließ den Kopf darauf sinken und war eine lange Zeit nicht imstande, etwas anderes zu tun. Ich spürte die geballte Wucht der kommenden Jahre ohne ihn, durchlebte sie alle, in ihrer ganzen Länge, Bitterkeit und Leere. Was ich getan hatte, war zugleich richtig und falsch gewesen, beides zerriss mich innerlich, heilte mich, zerriss mich erneut, und beide Gefühle waren unerträglich. Ich wusste nicht, wie ich mich jemals wieder von der halbmondförmigen Sandbucht und dem Ufer lösen sollte, um durch die eisige Kälte nach Hause zu gehen.
Ich verbrachte einen schrecklichen Frühling. Ich ging nicht zur Crescent Cove hinunter; ich wollte meinen Sohn nicht zwischen den anderen Jungtieren erkennen und daran erinnert werden, dass ich ihn einmal bei mir gehabt hatte, ihn jetzt nicht mehr im Arm halten konnte und es nie wieder tun würde.
Ich kümmerte mich um Dad; Mum schien ihn mittlerweile zu verabscheuen und tat kaum noch etwas für ihn. Doch wenn er schlief und ich das Haus einigermaßen in Ordnung gebracht hatte, legte ich mich ins Bett und versteckte mich in meinem Schlaf, denn wach und unbeschäftigt zu sein bedeutete, von bleierner, endloser Trauer erfasst zu werden.
«Zu
dieser
Tageszeit!», schrie Mum eines Nachmittags und riss die Tür zu meinem Zimmer auf. «Was für ’n Faulpelz liegt denn mitten am Tag im Bett rum?»
«Ein müder», sagte ich.
«Müde? Wovon bist
du
denn müde? Komm mal mit hoch zu Grassy und Horace, wenn der grad einen neuen Zahn kriegt, dann weißt du, was müde ist. Du solltest dich was schämen!»
Doch sie brachte mich nicht dazu, mich vor Scham aus dem Bett zu quälen; ich war zu sehr in meine Trauer versunken. Ich wusste nicht einmal, was mir mehr fehlte – mein Sohn oder die Einsamkeit, in der wir uns aneinander erfreut oder gemeinsam gelitten hatten. Ich versteckte den Kopf in meinem Halstuch und unter den Bettdecken und hielt meine spindeldürren Arme kampfbereit, falls sie versuchen sollte, mich aus dem Bett zu zerren, wie sie es schon einmal getan hatte.
Doch sie trat nur näher an mein Bett heran. «Stirbst du an irgendwas? Bist du krank?»
«Kann sein», sagte ich matt. «Vielleicht fühlt sich Sterben so an.»
Das ließ uns beide mit einem Schlag verstummen. Beim Gedanken daran, dass mein Leid ein Ende finden könnte, überkam mich regelrechte Freude, und ich schloss die Augen, um mein Ende willkommen zu heißen. Mums Atem verriet mir, dass sie mich weniger erfreut anblickte. Vermutlich fragte sie sich, wie ihr Leben ohne mich aussehen würde, wie viel zusätzliche Arbeit es für sie bedeutete.
Der Sommer erreichte seinen Höhepunkt und ging vorbei, doch noch immer war ich nicht gestorben. Stattdessen gelang es mir sogar, jeden Tag etwas länger an die Waschküchenwand gelehnt in der Sonne zu sitzen, ohne von zu großem Schmerz übermannt zu werden. Dann kam der Tag im Herbst, an dem ich mir die Bänder abwickelte, um mich zu waschen, und von der Erkenntnis durchflutet wurde, dass alle Robben Crescent Cove verlassen hatten und zu ihrer großen Winterreise aufgebrochen waren. Ich wusch mich, wickelte mir die Bänder wieder um und stand eine lange Zeit einfach nur da und blickte ins Leere. Tags darauf stahl ich mich nachmittags aus dem Haus und ging ein bisschen im Dorf spazieren, ohne den Druck, etwas Bestimmtes erledigen zu müssen.
«Wie siehst du denn aus?», sagte Moll Granger. «Bist ja nur noch ’n wandelndes Knochengerüst!»
Ich bedachte sie mit einem müden Lächeln und ging weiter, um mir weiteres Gemecker, Fragen und Rezeptvorschläge zu ersparen.
Ich beugte mich über das Ufergeländer und versank im Anblick des Meeres. Es schien während meiner Abwesenheit breiter, grüner und geheimnisvoller geworden zu sein. Plötzlich piepste eine Kinderstimme hinter mir: «Guck mal, Mum, die ist ja gar nicht mehr fett!»
Es wäre klug gewesen, so zu tun, als hätte ich nichts gehört, doch mir schien jeglicher Funken Vernunft abhanden gekommen zu sein. Ich drehte mich um und erblickte Mattie Kimes, die Hand nach ihrem Sohn ausgestreckt, der abrupt stehen geblieben war, um mich anzuglotzen. «Komm her, Donald!»
«Ist die jetzt keine Hexe mehr?», fragte der kleine Junge und starrte mich an, als hätte ich weder Ohren noch Gefühle.
«Ach, Donald, du Dummkopf! Was redest du denn da?» Sie lief auf ihn zu, packte ihn am Arm und riss ihn fast mit sich hoch. Gleichzeitig wurde sie feuerrot und lächelte mir zutiefst beschämt zu, ein wortloses Flehen, ihn zu
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