Seeherzen (German Edition)
Schneckenhäusern, an anderen Stellen aus den Knotenpunkten und Glühfäden, die die Tierchen hinterlassen hatten. Sie hatte Arme, aber keine Hände; ihre beiden runden Brüste trugen jeweils eine Strandschnecken-Brustwarze; ihre Beine verschmolzen miteinander, liefen weiter unten wieder auseinander, endeten jedoch nicht in Füßen, sondern zwei fischartigen Schwanzflossen. Die grob umrissene Gestalt betrachtete mich – und ich sie –, während eine Schnecke nach der anderen fortkroch, die Gestalt in den Felsen eingebrannt zurückließ, wo sie ihren Rauch im Wind verströmte. Ich wandte mich dem Meer zu, um durch den mysteriösen aufsteigenden Wind die echte Brise hindurchblasen zu spüren; ich sah der Sonne zu, wie sie gemächlich herabsank und den Horizont anstupste. Das Strandschnecken-Mädchen klammerte sich fest an den Felsen hinter mir, strömte aufwärts und würde alles verändern.
Dad starb knapp zwei Wochen später. Seine Lungen füllten sich mit Wasser und ertränkten ihn. Als die ersten Winterstürme aufzogen, erkrankte auch Mum. Erst hatte sie es am Magen. Dann verabschiedete sich allmählich ihr Verstand. Sie wurde bettlägerig, und es schien, als wollte sie niemals wieder aufstehen. Beide Ereignisse brachten eine Menge Schwesternstreitigkeiten mit sich. Bee, Lorel und Grassy Ella hielten es offenbar für nötig, jeden Tag den Hügel zu mir herunterzukommen, entweder mit oder ohne Babybündel im Arm und den älteren Kindern im Schlepptau. Sie hackten auf mir herum, hatten ihre Augen überall, suchten nach neuen Anzeichen von Vernachlässigung und Unachtsamkeit, von der sie den anderen erzählen konnten. Selbst bei einer Beerdigung wären sie wie Gewitterwolken hereingepoltert – dieser Lärm! Diese geballte Feindseligkeit! Ich hatte ganz vergessen, wie sie ein Haus, wie sie meinen Verstand vereinnahmen konnten. Mein eigener Wille wurde von ihren Sticheleien und ständigen Einwänden verschüttet, und ich lief wie betäubt umher, folgte den Anweisungen der einen, dem Gegenkommando der anderen. So schuftete ich mich durch den Winter, und als es auf den Frühling zuging und ich mich in der noch frostigen Früh zitternd vor Kälte wusch, registrierte ich freudlos die Rückkehr der Robben in die Crescent Cove. Ich hatte fast vergessen, was ich dort getan und welchen Köder ich auf dem Felsen ausgelegt hatte.
Eines Tages – Bee hatte wieder einmal ausgiebig an mir herumgenörgelt und stürmte gerade durch die Haustür in den pfützendurchsetzten Schneematsch hinaus – kamen Arthur Scuppers Kinder die Straße entlanggelaufen und riefen: «Kommt alle in Fishers Laden! Sie haben eine Meerjungfrau gefunden! Kommt und guckt sie euch an!»
Bee trat vor die Stufe, um sie aufzuhalten. «Eine Meerjungfrau? Aber die Boote sind doch heute gar nicht rausgefahren!»
«Sie ist einfach splitterfasernackt in die Stadt spaziert!», rief Hex Scupper. Dann rannte er weiter und brüllte über seine Schulter zurück: «Aus der Crescent Cove!»
«Eine Meerjungfrau!», rief Bee, während die Kinder schon davonstürmten.
Ich versteckte meine zitternden Hände in der Schürze. «Was sie bloß damit meinen? Vielleicht ist es nur irgendein verformter Fisch.»
«Ein Fisch, der in die Stadt spaziert kommt?»
«Dann komm, wir gucken’s uns selbst an!»
Während ich mir den Mantel überzog, warf ich einen Blick durch die Tür in Mums Zimmer. «Was willst
du
denn?», fragte sie. «Hol meine Tochter her.»
«Ich geh nur kurz runter in Fishers Laden, um mir eine Meerjungfrau anzugucken», sagte ich. «Ich schließ dich besser ein, falls du auf die Idee kommen solltest, mir nachzulaufen.»
Sie funkelte mich wütend an, erkannte mich aber immer noch nicht – in letzter Zeit hatte ihr Verstand häufig ausgesetzt. Ich konnte ihr den größten Blödsinn erzählen oder sie geradeheraus beleidigen – einen Augenblick später hatte sie es schon wieder vergessen.
Ich verriegelte die Tür und machte mich mit Bee auf den Weg zu Fishers Laden. Wir mischten uns unter die Leute, die aus ihren Haustüren herausgeeilt kamen und sich Mäntel und Schals überwarfen. Ich war froh, dass Bee dabei war, weil sie so das Reden übernehmen konnte – was sie bereitwillig tat, denn wie alle anderen verlobten oder verheirateten Frauen musste sie ihrer großen Besorgnis über diese Meerjungfrau dringend Luft machen. Schweigend ging ich nebenher, nickte zustimmend und setzte die passenden Gesichtsausdrücke auf, um nicht aufzufallen.
Wir
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