Seeherzen (German Edition)
hättest
du
denn schon zu verlieren?»
Ich hielt seinem geringschätzigen Blick stand. «Willst du es oder nicht, Able?»
Er wandte den Blick ab und schnalzte mit der Zunge.
«Denn wenn du es willst, dann würde ich’s mir an deiner Stelle zweimal überlegen, die Person zu beleidigen, die dir deinen Wunsch erfüllen kann.»
Er räusperte sich und betrachtete das Stück Fußboden zwischen seinen Stiefeln.
«Komm morgen wieder. Dann sag ich dir, ob ich’s mache oder nicht.»
Mit gewichtigem Gesichtsausdruck brachte ich ihn zur Tür, während mein Herz hüpfte wie eine leichte Feder.
Doch in der folgenden Nacht versank Mum noch tiefer in ihrer Traumwelt: Es fing mit der Hochzeitstagpanik an und steigerte sich in einen heftigen Kampf mit all ihren Wahnvorstellungen. Sie entwickelte solche Kräfte, dass ich sie fast die ganze Nacht über auf das Bett drücken musste, ihren Fäusten und Füßen auswich und sie zu beruhigen versuchte; am Ende blieb mir nichts anderes übrig, als sie ans Bett zu fesseln, und selbst danach traute ich mich nicht, sie allein zu lassen und mir ein wenig Schlaf zu gönnen, aus Angst, sie könnte sich frei strampeln.
Der Morgen erlöste mich schließlich aus diesem Albtraum; ich benachrichtigte eine meiner Schwestern und ließ die Witwe Threading kommen und einen ihrer Beruhigungstees zubereiten. Inmitten des ganzen Wirbels sah ich Able auf dem Weg vor unserem Haus herumlungern, der sich offenbar nicht anzuklopfen traute, solange jemand zu Besuch war. Ich schickte Lorel zu Grassy und Bee, damit sie ihnen von Mums und meiner misslichen Lage berichtete. Sobald sie hinter der Straßenecke verschwunden war, warf ich Able einen eindringlichen Blick zu, und er kam sofort zu mir geeilt.
«Ich werde tun», sagte ich, «worum du mich gebeten hast. Aber meine Mum liegt gerade im Sterben, und du musst warten, bis sie von uns gegangen ist, weil mir jetzt die nötige Kraft fehlt.»
«Wird sie wohl lange brauchen?», fragte er.
«Es kann morgen schon vorbei sein, oder sie kämpft noch einen Monat weiter, hat die Witwe gesagt. Hältst du’s so lang noch in deiner Hose aus?»
Daraufhin zog er errötend von dannen.
Mums Kampf dauerte noch zwei Wochen. Von jenem Abend bis zu ihrem Ende weigerte sie sich, zu essen und zu schlafen, und schlug knurrend und brüllend nach jedem, der sich ihr näherte. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre selbst wahnsinnig geworden; auf dem Höhepunkt meiner Erschöpfung und Angst konnte ich mich kaum noch daran erinnern, jemals eine menschlichere Mum gehabt zu haben, ein Frau, aus deren Blick Verstand gesprochen hatte und aus deren Mund verständliche Wörter gekommen waren. Doch eines Nachts kugelte sie sich während eines ihrer Kämpfe selbst die Schulter aus, und der Schmerz dieser Verletzung zähmte sie ein wenig. Danach fiel sie zusehends in sich zusammen und wurde immer schwächer; anstatt zu knurren, weinte sie nun mehr, und als ich eines frühen Morgens erwachte – ich war mit dem Kopf auf den Armen auf ihrem Bett zusammengesackt –, lag sie tot da. Ich betrachtete sie eine lange Zeit, wartete darauf, dass sich irgendein anderes Gefühl einstellte als die große Erleichterung über ihr Dahinscheiden, dann erhob ich mich vom Bett und schickte nach meinen Schwestern.
Sobald Bee eintraf, erklärte ich, dass ich dringend an die frische Luft müsste, und machte mich auf dem Weg zur Crescent Cove. Dort lagen sie alle, die geschmeidigen, glitschigen Robbenmütter und die munteren Robbenbabys mit weichem Fell. Sie tummelten sich auf den Felsen und bedeckten fast vollständig den schmalen Sandstreifen. Ich ging den Küstenpfad hinunter und eilte über die Felsen zu der grob umrissenen Meerjungfrau, die ich ausgelegt hatte. Ich löste meine Bänder, um sie deutlicher erkennen zu können, woraufhin sich die Robben aufbockten und mir zuheulten. Immer noch quoll aus jedem Punkt ihrer Umrisse unsichtbarer Rauch empor. Doch sie hatte ihren Teil der Arbeit getan – das Meermädchen war gekommen und wieder verschwunden –, alles Weitere wollte ich mit den Robben selbst durchführen. Ich beugte mich vor und löschte sie Punkt für Punkt aus, als würde ich mit den Fingerspitzen und Knöcheln kleine Kohlen zerdrücken. Sie war nicht besonders fein gearbeitet, trotzdem verfluchte ich die vielen Verbrennungen, die ich in Kauf nehmen musste, um sie auszulöschen. Mit steifen Fingern knotete ich die Bänder wieder über der Schulter zusammen, machte mich auf den
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