Seeherzen (German Edition)
ebenmäßigen, sommersprossenfreien Haut ab. Und sie hatte ebenso große dunkle Augen; ihre Hände waren lang, die schmalen Finger länger als die Handflächen. Ihr Mund glich meinem eigenen, war aber wunderschön; während ich ihn mir ansah, verstand ich, warum wer auch immer gefragt hatte, ob dieser Mund sprechen konnte. Er schien einzig dafür gemacht worden zu sein, von anderen bewundert zu werden, ein bloßes Schmuckstück: schön geschwungen, rot, mit vollen, sinnlichen Lippen. Ich betrachtete die schmalen, fast lippenlosen Münder um mich herum, die von Sommersprossen übersät waren; kleine verkniffene Schlitze in den sorgenvollen, verdrießlichen oder verängstigten Gesichtern der Frauen. Jeder Mann, der die Lippen dieser jungen Frau sah, musste sie einfach küssen wollen, musste sich in den weichen Kissen dieser Lippen wälzen, in die Tiefen dieser Augen eintauchen, über die fremdartig schmalen Körperlängen streicheln wollen. Oh, Frauen von Rollrock, dachte ich, von nun an seid ihr
nichts
mehr.
Am nächsten Morgen klopfte es an der Tür.
«Wer ist da? Wer ist da? Sind sie schon da?», wimmerte Mum schwach. In letzter Zeit war sie in den Erinnerungen ihres Hochzeitstags gefangen und hatte panische Angst, zu ihrer eigenen Trauung zu spät zu kommen. Seitdem sie das Bett gar nicht mehr verlassen konnte, hatten sich ihre Angstzustände noch verschlimmert.
«Oh, du hast noch jede Menge Zeit, Mum», beruhigte ich sie, als ich an ihrer Tür vorbeilief. Es hatte keinen Sinn mehr zu versuchen, es ihr zu erklären, sie in die Gegenwart zurückzuholen; es war einfacher, in der Sprache ihrer Wahnvorstellungen mit ihr zu reden.
Ich öffnete die Haustür. Davor stand nicht, wie befürchtet, eine meiner meckernden Schwestern oder eins ihrer Kinder, denen ich irgendeinen Gefallen tun sollte. Es war Able Marten; sein Mantel flatterte im Frühlingswind, sein Haar war zerzaust, voller Wirbel und Locken und so fettig, das es beinahe purpurrot aussah. Genau die Art ordinärer Kerl, von dem ich geahnt hatte, dass er mir in die Falle gehen würde.
«Was willst du denn hier, Able?» Er war einer von denjenigen, die mich in der Schule gepiesackt hatten. Einmal hatte er mir seinen schmuddeligen Finger in den Bauch gepikt:
Was für ’n schönes fettes Hühnchen haben wir denn da
, hatte er gesagt.
Da is’ ja ordentlich was dran.
Doch nun war er ein hochgewachsener junger Mann. «Kann ich mit dir reden?»
Ich ließ ihn herein, winkte ihn zum Kamin hinüber. Er setzte sich auf Dads durchgesessenen Lehnstuhl. Es war seltsam, einen jungen Mann aus Fleisch und Blut im Haus zu haben.
Vorsichtig setzte ich mich ihm gegenüber. Er beugte sich zu mir. «Warst du gestern bei Fisher, um das Meermädchen zu sehen?»
«War ich, wie alle anderen auch.»
«Ich war heute Morgen wieder da. ’ne ganze Menge von uns sind runtergegangen, um noch ’n Blick auf sie zu werfen.»
Gut. Sie waren ihr also hoffnungslos verfallen. «Und hat sie gut geschlafen in ihrem Bett an Land?»
«Kein bisschen», sagte Able. «Sie ist ausgebüxt und hat ihren Pelz aus dem Schrank geholt, in dem Fisher ihn versteckt hatte – sie war blutüberströmt, hat die Tür wohl mit bloßen Händen aufgebrochen, um dranzukommen. Sie ist zurück ins Meer, und die Fishers haben alle so felsenfest geschlafen, als hätten sie jeder sieben Krüge Bier intus gehabt, sogar die Frauen.»
Ich war erleichtert, dass sein Spott den Fishers galt und nicht mir. «Das war ganz schön leichtsinnig von ihnen», sagte ich sanft.
«Sehr leichtsinnig», sagte Able selbstgefällig.
«Tja, dann können wir ja jetzt, wo sie weg ist, wieder so weiterleben wie vorher.»
«Können wir nicht, verflixt noch mal!» Bestimmt hätte er gern etwas deutlich Derberes als
verflixt
gesagt, aber er wollte mich ja um einen Gefallen bitten.
Ich senkte den Blick und verkniff mir das Lachen. «Nun,
ich
kann es. Was hindert dich denn daran?» Able sah mir eine ganze Weile in die Augen, aber ich achtete darauf, dass sie nichts preisgaben. «Jetzt komm schon, Able. Du bist noch nie hergekommen, um mit Misskaella Prout zu plaudern. Also, was willst du?» Ich wollte, dass ihm unbehaglich zumute wurde, wollte ihn betteln sehen.
«Also gut …» Der freche Kerl war nicht einmal ansatzweise verlegen. «Es heißt, du besitzt die Gabe. Ich wollte fragen, ob du mir eine Robbe holen kannst.» Als ich nicht antwortete, fügte er hinzu: «Eine Frau
aus
einer Robbe, meine ich. So wie die von
Weitere Kostenlose Bücher