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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margo Lanagan
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herbeigeholt hatte, bekam ich am ganzen Körper Gänsehaut. Ich konnte mir gut vorstellen, eines Tages selbst eine so gertenschlanke und staunende Frau mit seidigem Haar und dunklen Augen haben zu wollen, die mir ebenso zugeneigt war wie diese Frau Nick. Die Jungs um mich herum schienen den gleichen Gedanken zu haben wie ich, sie waren ebenfalls verstummt und blickten Nick und seiner Braut gebannt nach, wie sie in trauter Eintracht ihrem neuen Leben entgegenschritten.
    Die furchteinflößende Misskaella humpelte steifbeinig hinter ihnen her. Ihre Umhänge schleiften über den Boden, Strähnen ihres rot-weißen Haares lösten sich aus dem Knoten, den sie hastig zusammengesteckt hatte, damit es ihrer magischen Arbeit nicht im Weg war. Sie war neben meiner Mutter die einzige Rotfrau auf Rollrock Island. Ich war nicht von einer Robbenfrau geboren worden, so wie die anderen Jungs hier. Und ich sollte also auch keine heiraten, hatte Dad gesagt?
Männer wie uns
, hatte er gesagt und mich damit von den anderen Jungen abgegrenzt. Hielt er uns für überlegen? Oder dachte er insgeheim auch – ich lehnte mich zurück, um hinter Misskaellas Tüchern noch einen Blick auf den schwarzhaarigen Schleier der neuen Braut zu erhaschen, und erzitterte beim Anblick der glänzend übereinandergleitenden Haarpracht –, dass wir niemals gut genug für eine solch hochgewachsene, feingliedrige und fremdartige Meerfrau sein würden?
    Wir standen auf und folgten ihnen zögerlich, behielten unsere Vorhut immer im Blick, aber nicht in Hörweite.
    «Wie viel kostet so was?», flüsterte Salmon Cawdron.
    «Das will niemand verraten», sagte Neville. «Du musst den Preis direkt mit
ihr
aushandeln. Ich weiß nur, dass Jerrolt Ardler drei Jahre gebraucht hat, um das Geld zusammenzukriegen. Er hat in der ganzen Zeit keinen einzigen Tropfen bei Wholemans getrunken und musste ihr trotzdem noch was zahlen, nachdem sie seine Abigail geholt hatte.»
    «Du zahlst dein ganzes Leben und deine Männlichkeit, sagt mein Dad», kommentierte Howth Marten.
    «Ja, es gibt noch jede Menge Männer auf Rollrock, die bei Misskaella Schulden haben – und ’nen Haufen Söhne, für die sie auch noch Essen und Kleidung kaufen müssen.»
    «Aber guckt sie euch an!» Salmons Tonfall verriet uns sofort, dass er nicht von Misskaella sprach. «Sie ist doch keine
Ware
, der man einen Preis aufdrückt – wie ’nem Sack
Mehl
oder ’ner Kiste
Konserven

    «Du bezahlst aber nicht
sie
», sagte Neville. «Sondern Misskaellas Arbeit. Der Preis ist fürs Rausholen. Du zahlst für das, was an Land passiert, auch wenn das, was du dafür kriegst, aus dem Meer kommt.»
    An diesem Abend bereitete ich Mum und mir etwas zu essen zu – Brot, etwas Käse, ein wenig geräucherten Fisch – und erzählte ihr dabei, was ich gesehen hatte, wie Nicholas mit seiner neuen Frau und Misskaella an uns vorbeigegangen war. Seit Dads Tod war Mum sowieso schon sehr schweigsam gewesen, doch als ich an diesem Abend erzählte und auftischte, umgab sie sich mit einer anderen Art von Stille, und als ich den hellen Klang meiner Worte inmitten dieses Hohlraums widerhallen hörte, unterbrach ich meinen Bericht. Ich goss den Tee ein, trug die Tassen zum Tisch und tat, als fiele mir gar nicht auf, wie präsent sie auf einmal war, wie viel regloser als gewöhnlich, wie sie mich mit einer wachsamen Ernsthaftigkeit beobachtete, die ich schon lange nicht mehr an ihr bemerkt hatte.
    «Es war für mich eben das erste Mal, dass ich eine Mum gesehen habe, die gerade frisch aus dem Meer kommt», hörte ich mich entschuldigend sagen.
    «Oh, noch ist sie keine Mum», meinte Mum. «Zumindest nicht an Land. Es kann aber sein, dass sie schon mehrmals Junge bekommen hat und sie im Meer zurücklassen musste.»
    «Das stimmt», sagte ich. «Heißt es nicht auch in den Geschichten, dass sie zwischen ihren beiden Arten von Kindern hin- und hergerissen sind?»
    «Geschichten?», sagte sie. «Wenn es doch bloß nur Geschichten wären!»
    Ich setzte mich und schob die Teetasse näher zu ihr hin; vielleicht konnte ich sie wieder in ihren schweigsamen Zustand zurückversetzen, indem ich sie an all die mühsamen Aufgaben erinnerte, die vor ihr lagen – das Hochheben der Tasse, das Schlucken –, während Dads Abwesenheit und das Echo seiner nicht gesagten Worte, seines nicht gelachten Lachens den Raum erfüllten.
    Doch sie ließ die Hände auf dem Schoß liegen und sah mich bloß an. «Ich habe nachgedacht», sagte sie.

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