Seeherzen (German Edition)
beendet.
* * *
Ich war fast zwölf, als mein Vater während eines dunklen Winters starb. Er ließ Mum und mich für lange Zeit mit gebrochenem Herzen zurück; wir wuschen und beerdigten ihn, danach saßen wir herum. Als auf der Insel bereits das Tauwasser im Boden versickerte, waren wir beide immer noch innerlich eingefroren. Wir konnten nicht ohneeinander sein, jeder mit sich allein in der ungewohnten Ordnung der Dinge; wir konnten aber auch nicht zusammen sein in dem Wissen, was uns mit Dad verloren gegangen war.
Das Leben der anderen Leute, die nicht zu den Malletts gehörten, ging um uns herum weiter, und nie waren sie mir merkwürdiger erschienen als aus unserem kalten Kokon der Trauer heraus betrachtet. Die rüden rotmähnigen Männer stiefelten umher, während die Frauen mit den seidig-dunklen Haaren sanft lächelnd und Meeresmelodien summend durch das Dorf zu schweben schienen. Sie alle wirkten fremdartig auf mich, sogar die Jungen, meine eigenen Kumpel, die eine Mischung aus ihren Müttern und Vätern waren. Einige kamen ganz nach ihren Vätern und hatten lockige rote Haare, einige glatte, manche hatten die grazile Gestalt ihrer Mutter, ihre großen dunklen Augen oder fließenden Bewegungen. Ob rot- oder schwarzhaarig, sie alle schienen so gänzlich anders zu sein als ich, so energiegeladen und unternehmungslustig, so leicht zum Lachen zu bringen und so voller Leidenschaft, egal, worüber sie redeten.
Meine Ruhelosigkeit trieb mich irgendwann aus dem Haus, und ich stand inmitten einer kleinen Gruppe dieser Jungs, als Nicholas Kimes seine nagelneue Frau aus der Crescent Cove heraufbrachte. Einige von uns hatten sehen wollen, wie sie aus dem Robbenkörper herausgeholt wurde, doch bevor sie und Kimes zur Bucht hinuntergegangen waren, hatte Misskaella, die alte Krähe, uns mit finsterem Blick angekrächzt, wir sollten uns schleunigst aus dem Staub machen, und ein paar der Jungs, die sich nicht trauten, sich ihr zu widersetzen, hielten uns vom Felsvorsprung fern und hinderten uns daran, hinunterzublicken und Misskaella heimlich beim Zaubern zuzusehen. Brawn Baker hatte behauptet, man könne den Augenblick spüren, in dem es passiert, wenn man ganz aufmerksam sei, also saßen wir mucksmäuschenstill an die Wand gelehnt im Gras und warteten gespannt darauf. Einige meinten, sie hätten wirklich etwas gespürt, ein Kribbeln auf der Haut oder so etwas, doch ihre angeblichen Empfindungen hätte man genauso gut der kühlen Frühlingsbrise zuschreiben können oder dem Nervenkitzel, weil wir uns in der Nähe von etwas Verbotenem aufhielten.
Wir waren alle überrascht, dass Nicholas’ kupferfarbener Lockenkopf schon so bald wieder oben auf dem Pfad im Sonnenschein auftauchte. Er ging langsam und stützte seine Frau, die noch lernte, das Gleichgewicht zu halten und zu laufen. Sie trug ein schlichtes Stoffkleid von der Insel, das ganz neu und noch etwas steif war. Nick hielt ihre Hand fest umschlossen, und sie lehnte sich bei jeder Bewegung an ihn. Die salzige Seetangbrise blies durch ihr glänzendes Haar, konnte aber nur einzelne Strähnen davon hochwehen, nicht das ganze Gewicht ihrer Haare, die bis zu ihren Oberschenkeln herabfielen. Hinter den beiden kam die Hexe in Sicht, kämpfte sich steinfüßig und schwerfällig wie ein kürzlich zum Leben erweckter Felsbrocken bergauf.
Als die drei näher kamen, schien nur die Robbenfrau uns zu bemerken – sie blickte Nick auffordernd an, ihm unsere Anwesenheit zu erklären, uns vorzustellen. Er tat nichts dergleichen, blickte ihr nur verwirrt und wortlos ins wunderschöne Gesicht, und sie schien zu akzeptieren, dass wir vorerst namenlos blieben, eine Ansammlung Schaulustiger, an der man vorbeigeht. Also schritten sie vorüber, so feierlich, als bildeten sie eine Prozession, die durchs Kirchenportal hinaustritt, so seltsam, als kämen sie gerade aus einem Schiffswrack herausgewankt.
Mein Herz fühlte sich in der letzten Zeit so tot an, dass es weniger die Robbenfrau selbst war, die mich beeindruckte, als vielmehr Nicks Zustand vollkommener Verzückung. Ich wünschte, ich könnte auch von jemandem so abgelenkt werden, mich so bereitwillig von einem anderen Wesen einnehmen lassen. Und das Mädchen war zweifellos wunderschön; das waren sie natürlich alle, doch dieses hier war gerade erst dem Meer entstiegen, und unter der frisch abgestreiften Haut war gerade erst diese wundervolle Weiße zum Vorschein gekommen. Bei ihrem Anblick und dem Gedanken daran, dass ein Zauber sie
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