Seeherzen (German Edition)
die Augen; der Schluchzer, den ich unterdrückt hatte, quoll aus mir heraus, ihm folgte ein weiterer, dann noch einer. Ich weinte Flecken auf ihre Latzschürze und ihren Rock. Mein Vater kam aus dem Garten herein. «Was ist denn mit dem Jungen los?» Sie erklärte es ihm über mich hinweg – ich sah nicht auf, wollte Dads Greisenalter nicht sehen müssen, auf das Harvey mich aufmerksam gemacht hatte. Sie sprachen und lachten miteinander, nicht über mich, sondern über den Grund meiner Tränen, damit ich, noch während ich vor mich hin schluchzte, wusste, dass wir hier in unserem Haus unsere eigenen Gewohnheiten und Regeln hatten und alles in bester Ordnung war, dass nichts und niemand Mum oder Dad verletzen konnte, erst recht nicht ein Schandmaul wie Harvey Newsom. Ich war erleichtert, aber gleichzeitig fühlte ich mich irgendwie von ihnen getrennt. Ganz gleich, wie fest ich mich an Mum klammerte und wie beruhigend sie von oben auf mich einredeten, nichts konnte die Worte, die Harvey mir ins Gesicht gespuckt hatte, wieder ungesagt machen. Nichts konnte sie ungehört machen. Nichts konnte die klaffende Wunde in meinem Verstand – die Fragen, die Sorgen und die Demütigung – wieder schließen.
Mein Dad und ich saßen vor dem Kamin. Ich war näher ans Feuer gerückt, hockte auf den Steinplatten davor und war vor Hitze nass geschwitzt; Dad hatte in seinem Armsessel Platz genommen. Mum war auf einen Sprung in Fishers Laden runtergegangen, und kurz nachdem sie aufgebrochen war, hatte der Regen eingesetzt; wir lauschten seinem Klopfen am Fenster und fragten uns, ob er noch stärker werden und Mum bei Fisher festsitzen würde.
Er wurde stärker. An der Fensterscheibe liefen die Regentropfen in Schlieren herunter; das Prasseln und Tröpfeln auf den Dachschindeln, das eben, als Mum noch hier mit uns im Haus gewesen war, so gemütlich geklungen hatte, wirkte jetzt, wo sie draußen war und mittendrin steckte, bedrohlich.
Dad rutschte in seinem Sessel vor und stützte die Hände auf seine ins Kaminlicht getauchten Knie. «Ich sollte ihr den Mantel nachbringen», sagte er.
«Ich kann das machen», sagte ich und sprang auf.
Doch auch er stand auf und drückte mich wieder zurück auf meinen Platz vorm Feuer. «Ich mach das schon. Ich will nicht, dass du dich erkältest.»
Er schwang sich seinen Mantel über, rollte Mums zu einem Bündel zusammen und war verschwunden. Er eilte am Fenster vorbei und dann durch den kalten grauen Nachmittag den Berg hinunter.
Mir wurde es jetzt zu heiß. Ich kletterte auf Dads Sessel, und als ich mich anlehnte und mir dabei mein aufgeheiztes Hemd und den Pullover an den Rücken presste, schnappte ich vor Schreck nach Luft. Ich saß da, wartete ab und lauschte mit gespitzten Ohren, ob Mum und Dad zurückkamen. Inmitten des Regens fühlte ich mich in dem Haus wie auf einer großen behaglichen Insel.
Als sie zurückkehrten, lugte ich zwischen den geschwungenen Lehnen des Sessels hindurch und sah sie an der Tür herumwerkeln und lachen. Dad nahm Mum die Milchflasche ab, die sie gekauft hatte, sie streifte sich den Mantel ab und tauschte ihn gegen die Milchflasche aus. Die Regentropfen fielen vom Saum ihrer Mäntel auf den Vorleger, und die Haare überzogen ihre Wangen mit purpurnen Streifen. Sie lachten darüber, dass er sie gerettet hatte und wie plötzlich der Regen über sie hereingebrochen war. «Als hätte der Regen absichtlich so richtig losgelegt, um mich durchzuweichen, Dominic! Siehst du, und jetzt hört er auf, wo ich zu Hause im Trockenen bin!»
Sie brachte die Milch in die Küche, während Dad die Mäntel ausschüttelte und aufhängte. Als er zurück ans Feuer kam, rutschte ich von seinem Sessel hinunter. Ich setzte mich in Mums Sessel, der kleiner war und mit weicherem, geblümtem Stoff bezogen. Dad machte es sich wieder in seinem Sessel gemütlich, und ich wartete darauf, dass er einen seiner typischen Sätze sagte:
Zwei alte Knacker vorm Feuer, jaja
, oder:
Oh, was für ein stürmischer Abend da draußen
. Das sagte er immer, egal ob es draußen stürmte oder vollkommen ruhig war.
Doch er saß eine Weile einfach nur schweigend da und hing im Lichtschein des Feuers lächelnd seinen Gedanken nach. Als er bemerkte, dass ich ihn beobachtete, wurde sein Gesicht ernst.
«Wenn du mal heiraten willst, dann fahr aufs Festland», sagte er. «Such dir eine Frau aus Cordlin, eine wie deine Mutter. Das ist die richtige Art Frau für Männer wie uns.»
Männer wie uns?
Sah er etwa
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