Seeherzen (German Edition)
«Rollrock ist ohne deinen Dad nicht der richtige Ort für mich. Und auch nicht für einen jungen Mann, der noch die Wahl hat. Erinnerst du dich noch an Tante Ames und deine Grandma aus Cordlin, die uns mal hier besucht haben?»
«Ist lange her.» Ich saß vor dem Teller, den ich selbst hingestellt hatte, und wollte endlich mit dem Essen anfangen.
«Ich denke, wir werden hinfahren und bei ihnen wohnen», sagte sie. «Ich bin sicher, sie werden uns aufnehmen.»
Ich starrte sie an. Obwohl jedes ihrer Worte für sich genommen vernünftig klang, gelang es mir nicht, sie zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen, denn sie konnten eigentlich nur eins bedeuten, doch das erschien mir ungeheuerlich, unmöglich, so wie unser Leben zurzeit aussah. «Wir könnten nach Cordlin gehen? Du und ich? Und auf dem Festland wohnen?»
Meine Fassungslosigkeit brachte sie zum Lächeln. «Für dich ist es eine Chance, Dominic. Vielleicht kannst du etwas anderes werden als Fischer. Nicht, dass dein Dad auf dem Meer nicht zufrieden war, aber wer weiß, was sein Sohn erreichen kann?»
Ich schob die Teetasse noch ein wenig näher zu ihr hin. «Solang er noch heiß ist», sagte ich, um uns beide wieder in die Gegenwart zurückzuholen, zu diesem Essen – für den Fall, dass wir uns schon mehr erträumt hatten, als wir uns je erhoffen konnten. Ein anderer Teil meines Verstandes dachte: Aber natürlich, natürlich! Wie
richtig
es sich anfühlen würde, wenn alle um uns herum rothaarig wären und Mum nicht mehr aus dem Rahmen fallen würde! Die Freude darüber konnte ich mir tatsächlich vorstellen; der Rest war zu überwältigend, lag zu sehr außerhalb meines Erfahrungsschatzes, als dass mein Verstand darauf anders hätte reagieren können als mit größtem Erstaunen und heller Aufregung.
«Ich schreib ihnen noch heute Abend», sagte sie. «Der Brief kann dann morgen mit dem Boot rausgehen. Wir warten Tante Ames’ Antwort ab, bevor wir irgendwelche Pläne schmieden. Ich zweifle zwar nicht daran, dass sie uns aufnimmt, aber es ist besser, wenn wir uns eine mögliche Enttäuschung ersparen.»
Sie hob ihre Teetasse an die Lippen und nahm den ersten Schluck, als wäre diese Handlung nicht einmal ansatzweise anstrengend.
Nach Rollrock erschien mir Cordlin wie ein riesiger turbulenter Jahrmarkt voller fremder Menschen, Dinge, Tiere, Maschinen und Gewohnheiten. Ich wuchs heran, wurde zu einem schlaksigen Jugendlichen, dann füllte ich meine Statur aus und verwandelte mich in einen jungen Mann. Ich besorgte mir eine Arbeit auf dem Markt und machte damit meine Mum stolz, die nach einer langen Folge von Krankheiten von ihrem letzten Leiden geplagt das Bett hüten musste. Bei der Arbeit trug ich eine weiße Schürze, die mir bis zu den Knöcheln reichte, und schob den ganzen Tag lang einen Karren durch die Gegend, lud Kisten mit Gemüse und Obst, Eimer voller Blumen und Kästen mit eisbedecktem Fisch auf. Ich war damit ganz zufrieden, auch wenn ein Teil von mir wusste, dass meine Kameraden aus Potshead wenig davon gehalten hätten, ihren Lebensunterhalt mit etwas anderem zu verdienen als mit einer Arbeit auf dem Meer. Ich hatte etwas Geld und ein paar Freunde, und als ich erst einmal ein wenig Fleisch auf die Rippen bekommen und Muskeln zugelegt hatte, stellte ich fest, dass ich bei den Mädchen ganz gut ankam.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich den Tag, an dem Nick Kimes mit seiner Frau auf der Crescent Road an uns Jungs vorbeigegangen war, so gut wie vergessen. Meine Aufmerksamkeit galt nun ganz den Mädchen hier in Cordlin, und nachdem mir eins oder zwei von ihnen vorübergehend das Herz gebrochen hatten, begegnete ich Kitty Flaming, die als Buchhalterin im Büro der Markthallen arbeitete. Wir lernten uns bei einem Picknick für die Marktangestellten kennen, und schon während unseres ersten Gesprächs fühlte ich mich wohl bei ihr. Von da an gingen wir regelmäßig zusammen spazieren, tanzen, ins Lichtspieltheater und unternahmen noch andere gemeinsame Aktivitäten, die man als junges Paar in einer Hafenstadt wie Cordlin machen konnte.
Ich war sehr froh, Kitty zur Liebsten zu haben. Mum, Grandma und Tante Ames hatten sie ins Herz geschlossen; sie war ein hübsches, stolzes Mädchen und wusste genau, wie sie sich zu jedem Anlass und in jeder Gesellschaft zu kleiden und benehmen hatte, egal, ob diese ihr sozial über- oder unterlegen war oder ebenbürtig. Sie hatte einen offenen Blick, ein ehrliches Lachen und so viel Energie, dass sie einen
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