Seejungfrauen kuesst man nicht
getan, aber du warst schon in Durham. Ich konnte ja schlecht Frances nach deiner Adresse fragen — sie wäre misstrauisch geworden.«
»An diesem Nachmittag am Hügel zweiundsechzig hätte ich mich fast getraut - erinnerst du dich an diese Schützengräben im Wald hinter dem Museum?«
Ich nickte. »Und wieso hast du es nicht getan?«
»Tja, erstens hatten wir den Alten dabei. Und wir hatten uns gerade all diese Bilder von Leichen und Pferdeteilen in Bäumen angesehen, und es schien nicht so ganz der richtige Moment zu sein.«
»Ich wusste gar nicht, dass du so wählerisch bist.«
»Heute Abend hätte ich fast auch nicht den Mut aufgebracht, aber dann habe ich gesehen, wie Frank dich angequatscht hat, und da bin ich irgendwie in Panik geraten.«
»Er war nett«, sagte ich.
Rad verzog das Gesicht. »Ich nehme an, ich sollte ihm dankbar dafür sein, dass er dich betrunken gemacht hat.«
»Ich bin nicht betrunken«, log ich. Der Bürgersteig unter mir floss dahin wie ein Gleitband am Flughafen. Die Sterne erschienen mir heller und zahlreicher als je zuvor, und über uns schien ein schmaler, fingernagelartiger Mond, wie ein Riss im Hintergrund des Himmels. Am Ende der Straße blieben wir stehen.
»Welche Richtung?«, sagte Rad. An der Ecke gegenüber stand ein riesiges, hässliches Haus am Ende einer gekrümmten Auffahrt. Es hatte auf jeder Seite Turmzimmer und im obersten Stockwerk asymmetrische Fenster, die ihm ein schiefes Aussehen verliehen, wie jemand, dessen Brille auf einer Seite vom Ohr gerutscht ist. Das Haus wurde von einem Paar Torpfosten flankiert, die vom Kopf eines brüllenden Löwen und einem bösartig aussehenden Adler gekrönt waren.
»Hier war ich schon mal«, sagte ich.
»Das Gefühl habe ich auch oft«, sagte Rad. »Sogar ohne zu trinken. Ich habe vor kurzem irgendwo gelesen, dass ein Déjà-vu von einer Art Kurzschluss im Gehirn verursacht wird«, quasselte er weiter.
»Nein. Ich meine, ich war hier wirklich schon mal. Vor Jahren. Mein Dad hat auf dem Weg nach Half Moon Street hier angehalten und ein Päckchen abgegeben. Ich weiß noch, dass ich Angst vor diesen Figuren hatte.« Ich ging die Auffahrt hinauf.
»Was hast du vor?«, sagte Rad.
»Ich klingele.«
»Es ist fast Mitternacht. Bist du verrückt?«
»Unten brennt noch Licht.«
»Was willst du denn sagen?«
»Hallo.« Ich weiß nicht, woher diese Welle der Unvernunft kam; vielleicht war es der Champagner, der mich angeben ließ, oder die Euphorie, mit Rad zusammen zu sein, oder etwas noch viel Unheimlicheres. Aber der Mut verließ mich erst, als ich die Haustür erreichte, und bis dahin muss das Geräusch meiner Absätze auf dem Weg durchs offene Fenster zu hören gewesen sein, denn ein Gesicht erschien kurz zwischen einem Vorhangspalt, die Lichter im Korridor wurden eingeschaltet, und bevor ich mich zurückziehen konnte, wurde die Tür etwa zehn Zentimeter geöffnet, und dann wieder geschlossen, während der unsichtbare Bewohner mit der Kette kämpfte. Ich war plötzlich nüchtern, verlegen und wäre geflohen, wenn ich gedacht hätte, ungeschoren davonzukommen. Rad lungerte noch in den Schatten am Fuße der Auffahrt, bereit, mich zu retten oder wenn nötig wegzurennen. O Gott, was habe ich jetzt getan?, dachte ich. Vielleicht sollte ich nur so tun, als hätte ich mich verlaufen und bräuchte eine Wegbeschreibung.
»Entschuldigung«, sagten wir beide, als die Tür sich öffnete.
Mir gegenüber stand ein Mädchen, vielleicht zwei Jahre jünger als ich. Sie hatte langes, blondes Haar, meine Augen, meine Nase, die Ärmste, und als sie vor Überraschung leise lachte, sah ich, dass sie meinen schiefen Zahn hatte. Wir starrten uns einen Augenblick an.
»Hallo«, sagte ich schließlich. »Ich bin Abigail Onions.«
»Ich weiß«, sagte sie und machte eine plötzliche, erfolglose Bewegung mit dem Fuß, um eine magere Katze aufzuhalten, die an uns vorbei in die Rhododendren schoss. Sogar ihre Stimme klang wie meine.
»Und wer bist du?« Ich musste einen von Rads Kurzschlüssen erlebt haben, denn ich schien die Worte zu hören, bevor sie sie ausgesprochen hatte.
Sie streckte mir zur Begrüßung die Hand hin. »Ich bin Birdie«, sagte sie.
32
Die Sicherung, die seit sechzehn Jahren vor sich hin geschmort hatte, war endlich durchgebrannt, und meine Familie wurde auseinandergesprengt.
Letztendlich verließ mein Vater das Haus, obwohl es Mutter lieber gewesen wäre, wenn diese Geste ihr überlassen worden wäre: Einen Koffer zu
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