Seejungfrauen kuesst man nicht
verschlossener. Aber sie sind alle ganz durchgedreht, weil Lexi weg ist. Er spricht nicht mit seinem Vater. Frances versucht alles zusammenzuhalten. Sie ist die Einzige, die noch mit allen spricht.«
»Aber wenn Rad nicht über mich reden wollte, was habt ihr dann die ganze Zeit getan?«
»Ach, wir haben über andere Sachen gesprochen.«
Irgendwie vergeht die Zeit. Trotz meines Kummers geht die Sonne mit majestätischer Gleichgültigkeit auf und wieder unter. Die Tage sind lang und heiß. Es hätte ein guter Sommer sein können. Eines Nachmittags nehme ich den Bus hinüber zur Balmoral Road und beobachte das Haus. Ich drücke mich im rechteckigen Schatten des Wartehäuschens herum. Als Verkleidung trage ich eine Sonnenbrille und eine dreißig Jahre alte Kricketkappe meines Vaters, die niemanden irreführen würde. Der einzige aufregende Moment ist, als sich die Haustür öffnet und Frances noch im Schlafanzug die beiden Flaschen mit warmer, saurer Milch hereinholt und wieder verschwindet.
Zwei Wochen Besorgtheit haben Mutter erschöpft. Sie hat verschiedene Strategien versucht, um mich wieder aufzurichten, und hat inzwischen alle Geduld mit mir verloren. Die erste davon bestand darin, mich mit verschiedenen Haushaltspflichten zu beschäftigen, damit ich keine Zeit zum Grübeln habe. Aber ich bin zu vielseitig: Ich kann Taschentücher bügeln und gleichzeitig grübeln. Die zweite war, sich selbst als Beispiel für jemanden hinzustellen, der sich trotz aller Widrigkeiten als unverwüstlich erwiesen hat. Sie hat das Auseinanderbrechen einer vierundzwanzigjährigen Ehe überlebt. Es gab Zeiten, sagt sie, da wäre sie am liebsten durchgedreht, aber »sie hat sich zusammengerissen«. Die dritte und sinnloseste von allen bestand darin, Andeutungen über das viel größere Leid riesiger Teile der Menschheit zu machen.
Irgendwann im August kommen die Examensergebnisse. Ich habe gut abgeschnitten. Mein Platz am Royal College ist gesichert, aber ich kann mich nicht zum Feiern aufraffen. Ich frage mich, wie es Frances ergangen ist und wohin sie gehen wird. Sie hat sich völlig planlos an Technischen Hochschulen überall im Land beworben, für so unterschiedliche Kurse wie Medienwissenschaften und Krankenpflege. Am Abend finde ich meine Mutter am Küchentisch vor, wo sie die halbe Flasche Moet & Chandon trinkt, die sie in Erwartung meines Erfolges im Kühlschrank aufbewahrt hat. Schuldgefühle steigen in mir auf wie Übelkeit, und ich hole mir ein Glas.
»Du wirst Kopfschmerzen kriegen«, sage ich zu ihr.
»Ich hatte schon seit zehn Wochen keine mehr. Ist dir das nicht aufgefallen?« Genauso lange ist mein Vater weg. »Es ist ein Wunder.«
»Prost«, sage ich.
»Ich dachte, als Nächstes probiere ich Kaffee. Mal sehen, wie er wirkt.«
»Wir könnten uns abends mal was vom Chinesen holen.«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, ich gehe es lieber langsam an. Will‘s nicht übertreiben.«
Das letzte Mal habe ich auf Anne Trevillions Party Champagner getrunken. Beim ersten Schluck setzt in meinem Kopf die Erinnerung ein.
Mutter schiebt mir den Rest der Flasche zu. »Schreckliches Zeug, Champagner, was? Gott sei Dank haben wir nicht oft was zu feiern.«
Ich sitze allein vor meiner Frisierkommode, betrachte mein Spiegelbild und zähle im Kopf chronologisch jedes einzelne Wort auf, das Rad je zu mir gesagt hat. Der Spiegel hat zwei bewegliche Seitenteile, sodass man sich im Profil sehen kann oder mit etwas Geschick von hinten.
Manchmal kann ich ganze Alleen von mir mit demselben trostlosen Gesichtsausdruck sehen.
Diese Gedächtnisübung dauert nicht lang. Ich habe die frühen Sachen hinter mir und bin jetzt bei der Party - meine Lieblingsstelle. Es kann nicht viele Paare geben, für die das Wort »Fledermäuse« Auftakt zu einem Kuss war. »Schneid deine Haare nie ab«, hatte er gesagt. Meine Hand zieht automatisch die Schublade der Frisierkommode auf, und dort, zwischen den Bürsten, Flaschen und Tuben, liegt eine Schere. Ihr Vorhandensein ist pures Glück: An einem Griff hängt eine Schlaufe, auf der KÜCHE steht. Mutter benutzt sie dazu, Coupons aus Zeitschriften zu schneiden. Ich fange unter meinem linken Ohr an, schneide grob in die Richtung meines Nackens und sehe, wie die Haarschwaden auf den Boden fallen. Nach dem ersten Schnitt wird mir plötzlich schwindlig, aber jetzt ist es zu spät, deshalb mache ich weiter. Es ist schwieriger, als man denkt, dickes, trockenes Haar zu schneiden: Es rutscht von den Klingen, wenn
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