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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
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ansonsten ist er fröhlich. Mutter hat ihn gebeten, morgen vorbeizukommen, was er für ein gutes Zeichen hält. Anscheinend müssen sie über Geld reden. Das mit Rad tut ihm Leid, und ich kann mich darauf verlassen, dass er das Richtige sagt. »Ich mochte ihn ganz gern. Vielleicht nimmt er doch noch Vernunft an.« Als ich gehe, bemerke ich, dass ihm mein neuer Haarschnitt nicht mal aufgefallen ist. Vielleicht blicken seine Augen direkt in die Seele; oder vielleicht hat er andere Dinge im Kopf.
    An dem Tag, als das normale Leben aufhört, sitze ich in meinem Zimmer und sehe aus dem Fenster in die Ferne ein neues Hobby von mir -, als ich den vertrauten grünen Citroën vorfahren sehe und Rad die Auffahrt entlanghumpelt. Mein Herz macht einen Sprung: Er ist da, der Augenblick, auf den ich gewartet habe, er ist wieder da. Ich nehme die Treppe mit drei Sätzen und öffne die Tür mit dem Klingeln. Er sieht schrecklich aus - blass, mit fettigen Haaren und unrasiert. Mit einem solchen Maß an Reue habe ich nicht gerechnet.
    »Kann ich reinkommen?«
    »Natürlich.« Wir gehen ins Wohnzimmer. Er wartet, bis ich mich gesetzt habe, bevor er auf der Couch gegenüber Platz nimmt. »Was hast du mit deinem Fuß gemacht?«, muss ich ihn einfach fragen. Er trägt einen dicken Verband und ein Paar Opalatschen.
    »Was? Oh, hab mich geschnitten. Das ist nicht wichtig.« Es herrscht Schweigen. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.« Er vermeidet jeden Blickkontakt. Mir ist egal, wie er es sagt. Ich weiß nur, dass es noch nie eine so dankbare Empfängerin einer Entschuldigung gegeben hat und ich es ihm so leicht machen werde, wie ich kann. Jeden Moment werde ich wieder glücklich sein; ich spüre, wie ich mich darauf vorbereite.
    Er steht auf, wie um sich selbst Mut zu machen, aber es funktioniert nicht, und er setzt sich abrupt wieder.
    »Du musst nichts sagen, wenn du nicht willst. Ich verstehe schon.«
    Er sieht mich mit leiser Hoffnung an. »Du hast es schon gehört? Von wem?« Die Atmosphäre zwischen uns ist gespannt: Seine Worte scheinen lange zu brauchen, bis sie mich erreichen.
    »Was gehört?« Ich begreife allmählich, dass das, was kommt, keine Entschuldigung ist - nichts dergleichen.
    »Von dem Unfall?«
    »Was für ein Unfall?«
    Der Hoffnungsschimmer ist weg. »Oh, ich dachte, du meinst, du wüsstest es.«
    »Nein. Ich weiß nichts. Was ist passiert?«
    »Birdie ist...« Seine Stimme wird hoch, und er hält eine Sekunde inne und schluckt. »Ertrunken.«
    »Ertrunken?« Eine Sekunde lang kann ich mich nicht erinnern, was das Wort ertrunken bedeutet. Es klingt so seltsam. »Du meinst doch nicht, dass sie tot ist?«
    Er nickt. »Gestern Abend. Ich wollte nicht, dass du es von jemand anderem erfährst.«
    »Wie ertrunken?«
    »Wir sind in Half Moon Street mit einem Boot auf den See hinaus gefahren, und es ist gekentert. Ich habe versucht, sie zu retten, aber ich habe sie nicht mal gefunden.«
    Wie bei Hurricanes und Tornados herrscht mitten in der Katastrophe eine schreckliche Stille. Und deshalb breche ich trotz allem, was ich höre, nicht in Tränen aus und breche auch nicht zusammen. Stattdessen sage ich etwas so Verabscheuungswürdiges, dass es mich noch jahrelang verfolgen wird: »Wieso warst du mit Birdie in Half Moon Street?«
    Rad sieht mich an, als hätte er nicht ganz verstanden, was ich gerade gesagt habe. »Wieso ist das wichtig, warum wir da waren?«
    »Ich meinte, was ist passiert? Wie ist es passiert? Bist du sicher, dass sie tot ist?«, plappere ich. »Können sie nicht was unternehmen? Ärzte.« In meinen Ohren dröhnt es so, dass ich nicht einmal ein Viertel von dem aufnehme, was er sagt. Erst viel später kann ich mir zusammenreimen, was passiert ist. Aber ein Bild dringt zu mir durch. Rad, wie er triefend nass die halbe Meile den Feldweg hinauf zurück zum Pub läuft, der jetzt dunkel und verschlossen ist, und wie er gegen die Tür schlägt und schreit: »Meine Freundin ist im See. Meine Freundin ist im See.«
    »Kommst du zurecht?« Er steht auf und will gehen. »Ich muss ihre Mutter besuchen. Sie weiß es, aber nur von der Polizei.« Seine Gesichtsmuskeln sind ganz starr; er will nicht weinen. Wir könnten uns gegenseitig trösten, denke ich. Aber wir tun es nicht.
    »Ich komme schon zurecht. Meine Mutter ist in einer Minute zurück. Ich setze mich hin und warte auf sie. Ich kann nicht glauben, dass sie tot ist. Ich kann nicht richtig denken. Ich kann nicht ...« Mein Gehirn ist so bleiern, dass ich

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