Seejungfrauen kuesst man nicht
was zwischen Rad und eurem Dad. Das hat nichts mit uns zu tun.«
»Unsere Familie ist auseinander gebrochen«, sagt sie. »Du bist im Moment mein geringstes Problem.« Und mit einem weiteren Schulterzucken schließt sie die Tür.
39
Die nächsten Tage sitze ich in meinem Zimmer herum wie ein Zombie und starre aus dem Fenster in eine Welt, die neuerdings grau ist. Ab und zu mache ich einen Spaziergang zum Kinderspielplatz, wo ich mich auf eine Schaukel setze und weine. Meine Gegenwart vertreibt die übliche Klientel, obwohl einmal eine Gruppe sieben- oder achtjähriger Jungs einen Ball um mich herumkickt, als wäre ich unsichtbar, was ich für sie auch bin. Wenn ich in die Zukunft blicke, sehe ich nichts Verlockendes: Von nun an wird jeder Tag sein wie der andere. Ich werde mich von der Welt zurückziehen und nur noch Rosenkohl und Kartoffeln essen. Ich bereue bitterlich, dass ich Goodbye to All That zurückgegeben habe. Jetzt habe ich nichts mehr von Rad. Am dritten Tag (ich mache mir im Kopf eine Strichliste wie eine Geisel) fällt mir Birdie ein. Ich habe ja noch Birdie; sie hat Zugang zu ihnen. Sie wird sich für mich einsetzen. Da ich vergesse, dass sie nicht zu uns kommt, rufe ich sie an und bitte sie, vorbeizukommen. Sie weiß, dass etwas passiert ist; sie hat eine Version von Frances gehört und ist erpicht auf Details.
Mutter ist großartig. Ich vermute, sie ist insgeheim froh darüber, ihre Neugier befriedigen zu können. Sie heißt Birdie herzlich willkommen wie eine ganz besondere Freundin. »Es ist so nett von Ihnen, zu kommen und Abigail aufzuheitern.« Dass sie von einander wissen, wird nicht angesprochen. Birdie, die damit rechnet, durch die Hintertür hereingeschmuggelt zu werden, ist vollkommen entwaffnet. Mutter macht einen Victoria-Rührkuchen für uns, etwas, das sie seit Monaten nicht getan hat. Ich gebe meinen Hungerstreik auf: Vielleicht schlage ich stattdessen den anderen Weg ein und esse mich zu Tode. Ich gebe Birdie meinen Bericht der Ereignisse, und sie hört mit gerunzelter Stirn zu. Sie ergreift Partei für mich, wie ich von Anfang an wusste.
»Als Frances‘ und Rads Vater hat er eine elterliche Beziehung zu dir, deshalb kommt es Inzest gleich, wenn er dich so anfasst. Außerdem ist er ein Mann, er ist älter, es ist sein Haus - die Macht ist ganz auf seiner Seite.« Ihre Mutter ist Samariterin, und Birdie kennt sich in der Ratgeberliteratur gut aus - in ihren Regalen stehen Bücher mit Titeln wie Trennung von gewalttätigen Männern und Tagebuch eines Missbrauchs. Innerhalb von zwanzig Minuten hat sie mich fast überzeugt, dass Mr. Radley ein potenzieller Vergewaltiger ist und mein Dilemma ein Musterbeispiel für das Leid der Frauen durch die Jahrhunderte hindurch. »Er hat überhaupt nicht mehr funktioniert«, lautet ihre Zusammenfassung, was mich an eine zerbrochene Toilette oder ein mutwillig zerstörtes Telefonhäuschen erinnert. Mir ist nicht wohl dabei. Seit meinem Besuch bei Frances überlege ich immer wieder, ob ich nicht auch einen Teil der Schuld trage: Verhalten sollte schließlich von strengeren Kriterien diktiert werden als nur von Verlegenheit. Aber es ist trotzdem eine Erleichterung, mein Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein, so nachdrücklich bestätigt zu bekommen. Trotz Birdies düsterer Interpretation des Zwischenfalls hat sie keine Probleme, sich in die Höhle des Vergewaltigers zu begeben. Sie stimmt sogar bereitwillig zu. »Ich werde mit Rad reden«, verspricht sie. »Vielleicht kann ich ihn dazu überreden, dich anzurufen.« Ein Teil von mir lässt sie nur widerwillig gehen, weil es bedeutet, dass ich wieder allein bin. Ihre Gesellschaft hat mich von meinem gegenwärtigen Unglück abgelenkt, obwohl wir von nichts anderem gesprochen haben. Sie hat mich sogar zum Lachen gebracht. Aber ihr Eingreifen ist meine letzte Hoffnung. Es ist wenigstens eine Methode, ihnen meine Gegenwart vor Augen zu halten, sodass sie mich nicht völlig aus ihrem Leben streichen können, deshalb schicke ich sie mit leisen Bedenken los, um für meine Sache einzutreten.
Sie nimmt erst am nächsten Tag Kontakt mit mir auf. Sie hat keinen Erfolg gehabt, will aber nicht mit den Details rausrücken. Ich spüre, dass sie versucht, mir die schlechten Neuigkeiten zu ersparen.
»Er ist sehr stur«, sagt sie.
»Was hat er gesagt?«
»Dass er nicht darüber reden will. Also hat er es nicht getan.«
»Hat er aufgewühlt gewirkt, oder anders, oder irgendwas?«
»Ja-a, er ist
Weitere Kostenlose Bücher