Seejungfrauen kuesst man nicht
eigenen, die ich auswendig kenne. Ich kann den Hörer kaum halten, so verschwitzt sind meine Handflächen. Ich weiß noch nicht, was ich sagen will, und als das Telefon zehnmal geklingelt hat, ist mein Mund sowieso ausgetrocknet. Ich bete, dass nicht Mr. Radley abnimmt. Einer Konfrontation mit ihm fühle ich mich noch nicht gewachsen. Schließlich ist da ein Klicken und ein knappes »Ja?« von Rad, und ich schaffe nicht mehr als ein »Hallo«, bevor er das Gespräch unterbricht. Ich rufe sofort noch einmal an. Meine Würde ist inzwischen tödlich kompromittiert, und ich bin zu verzweifelt, mir um irgendetwas anderes Gedanken zu machen, als wie ich mir Gehör verschaffen kann. Niemand nimmt ab.
»Ich gehe rüber«, sage ich zu Mutter. Sie sieht beunruhigt aus: Sie ist immer noch misstrauisch, was die Herkunft der Kratzer an meinen Beinen angeht, und außerdem der festen Überzeugung, dass ich die Geschädigte bin und deshalb auf die Entschuldigung warten sollte, die mir gebührt. Sie empfiehlt mir, meine Nase zu pudern, als würde das den Ausschlag geben. Als ich in den Spiegel sehe, verstehe ich ihre Beweggründe, aber meine Wiederherstellungsversuche sind zum Scheitern verurteilt. Meine Haut ist vom Weinen so angespannt und glänzend, dass das Puder nicht hält, und beim Auftragen von Mascara auf die nassen Lider bilden sich Halbmonde mit verschmierten Strichen und Klecksen wie Ausrufungszeichen.
Ich habe nicht vor, mit leeren Händen hinzugehen. Als Rache für das anonyme Paket vor der Tür werde ich die Ausgabe von Goodbye to All That zurückgeben, die Rad mir vor zwei Sommern geschenkt hat. Das erscheint mir angemessen. Noch während meiner Vorbereitungen kann ich nicht ganz glauben, dass ich den Mut habe, hinzugehen. Ich weiß nicht, ob ich nicht nur dort herumhängen, das Haus beobachten und wieder heim schleichen werde. Der Bus ist voll, und ich muss stehen, taumele und torkele jedes Mal, wenn wir um eine Ecke biegen. Ich fühle mich wie Marie-Antoinette in ihrem Karren - und mit genauso viel Vertrauen in den Ausgang meiner Reise. Ich betrachte die ausdruckslosen Gesichter der anderen Fahrgäste: Sie sind benommen wie alle Leute, die in Massen zur Arbeit transportiert werden. Sie glauben wahrscheinlich, ich bin eine von ihnen, eine weitere Arbeitsbiene. Sie können sich nicht vorstellen, in welcher Zwangslage ich stecke; dass ich auf dem Weg zu einem Treffen bin, das vielleicht über den weiteren Verlauf meines Lebens entscheiden wird.
Frances öffnet die Tür. »Oh«, sagt sie, »du bist‘s.« Sie bittet mich nicht hinein. Wenn überhaupt, schiebt sie die Tür noch ein paar Zentimeter weiter zu. »Was willst du?« Ihre Stimme ist lustlos, nicht direkt feindselig, aber auch nicht warm.
»Rad geht nicht ans Telefon«, sage ich und spüre, wie die Tränen wieder in mir hochsteigen. In meiner Kehle ist eine Schwellung wie eine Faust.
»Weil er nicht mit dir reden will.«
»Ich muss ihm erklären, dass es nicht so ist, wie er denkt.«
»Er weiß, dass du Dad nicht aufreißen wolltest«, sagt sie ungeduldig. Es erscheint mir so seltsam, sie diese Worte sagen zu hören. »Er weiß, dass Dad reinkam und dich geschnappt hat, wegen Mum und all dem. Aber du hast dich nicht gerade gewehrt. Du musst doch gewusst haben, dass Rad so was wirklich nicht ertragen kann.«
»Ich war zu verlegen. Er hatte mir gerade davon erzählt, dass Lexi mit Lawrence durchbrennt. Er hat fast geweint.«
»Wie würdest du dich fühlen, wenn du mich im Schlüpfer auf dem Knie deines Vaters finden würdest?« Das Bild, das sie damit heraufbeschwört, ist so bizarr, so unpassend, dass ich ihren Standpunkt fast verstehe. Sie sind auf ihn wütend, denke ich. Aber ihn haben sie am Hals, deshalb bin ich es, die gehen muss.
»Kann ich nicht einfach mit Rad reden?«
Sie zuckt mit den Schultern und macht mir die Tür vor der Nase zu, als wäre ich irgendein zweifelhafter Vertreter für doppelt verglaste Fenster oder von den Zeugen Jehovas. Einen Augenblick später ist sie wieder da. »Er will dich nicht sehen.« Sie klingt leicht entschuldigend. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass sie mich nicht persönlich hasst. Sie betrachtet das Buch, das ich in der Hand halte. »Soll ich das Rad geben?«
»Ja. Ich gebe es zurück.«
»Das ist nur fair.« Sie nimmt es.
»Du bist schwach, Frances«, sage ich in einem plötzlichen Anfall von Mut und Entrüstung. »Du weißt, dass ich keine Schuld habe. Du hättest für mich eintreten müssen. Das ist
Weitere Kostenlose Bücher