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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
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man liebt, dabei beobachtet, wie er sich selbst übertrifft. Diese intensive Betrachtung war schwer durchzuhalten, weil Frances mich hin und wieder mit dem Ellbogen in die Rippen stieß, »shagboot« flüsterte und von neuem zu zittern und zu schnauben begann.
    Gegen Ende gab es einen aufregenden Moment, als Rad sich mit dem Satz »Still! Ich stopfe dir den Mund« nach vorne beugte und Arlington auf die Lippen küsste. Ein Zittern lief durch das Publikum und legte sich sofort wieder, als der Dialog weiterging, unerbittlich und beruhigend.
    Nach dem letzten Vorhang nahm Rad mit der Andeutung eines Lächelns seinen Applaus entgegen, der von einem Prasseln zu einem Tosen geworden war, während die Besetzung reihenweise nach vorne kam. Frances musste davon abgehalten werden, zwei Finger in den Mund zu stecken und zu pfeifen. »Michael soll verdammt sein«, hörte ich Lexi Lawrence durch das Klatschen zumurmeln. »Er hätte hier sein sollen. Verdammt soll er sein.«
    Wir lungerten im Foyer herum und warteten darauf, dass unser Held aus den Umkleideräumen kam, während Lawrence losging, um einen Stuhl für Cecile zu suchen. Schließlich requirierte er aus dem Büro der Sekretärin einen Drehstuhl, auf dem Cecile wie ein kleiner juwelengeschmückter Gnom auf einem Giftpilz saß. Die Menge hatte sich erheblich gelichtet, als Rad auftauchte, bekleidet mit seinem üblichen schäbigen Pullover und einer Jeans. Zwischen seinen Wimpern waren noch schwarze Spuren zu sehen, und unterm Kinn verlief von Ohr zu Ohr ein Streifen braune Schminke. Er wurde sofort von der Familie überfallen, von den Frauen abgeküsst und von den Männern zwischen die Schulterblätter geschlagen. Ceciles Lippenstift hinterließ zwei violette Halbmonde auf seiner Wange.
    »Gut gemacht, junger Mann. Ich nehme an, als Nächstes ist das West End dran«, sagte Onkel Bill, der in Wahrheit drei Stunden Shakespeare für eine Erfahrung hielt, die man nicht wiederholen sollte.
    »Exzellente Leistung«, sagte Lawrence.
    »Gut gemacht, Marcus«, sagte Cecile. Sie schlug er nicht, fiel mir auf. »Das Talent zur Schauspielerei hast du von deiner Mutter.«
    »Unsinn. Er ist viel besser, als ich es war«, sagte Lexi. »Ich bin stolz auf dich«, fügte sie hinzu.
    Nicky kam herübergeschlendert. »Gratulation«, sagte er und tat so, als würde er über Rads Hand katzbuckeln.
    »Du warst der Beste«, sagte ich.
    »Wie war es, diesen Jungen zu küssen?«, wollte Frances wissen.
    »Wo ist Dad?« sagte Rad, und dann, als er sah, dass Lexi zögerte, verengten sich seine Augen, und er fauchte: »Ach, lass mich raten« und ging mit großen Schritten hinaus zum Auto.

19
    Meine Mutter ließ das Stück Papier auf dem Kaminsims stehen wie den Abschiedsbrief eines Selbstmörders. Es war eine Stellenausschreibung für den Leiter der Abteilung Alte Sprachen an der alten Schule meines Vaters in Bristol, die sie aus dem Times Educational Supplement herausgerissen hatte.
    »Du hättest doch bestimmt gute Chancen, als Ehemaliger - und dazu noch Stipendiat?«
    Es war an einem Sonntagmorgen; Mutter war aus der Kirche zurückgekommen, hatte das Mittagessen aufgestellt, und wir drei saßen im Wohnzimmer und lasen Zeitung. Es war seit Monaten mein erstes Wochenende zu Hause; Frances lag mit Grippe im Bett.
    »O nein«, sagte Vater hinter dem Feuilleton. »Ich habe überhaupt nicht den richtigen Stammbaum - besonders jetzt nicht, wo wir zur Gesamtschule geworden sind.«
    »Nicht den richtigen Stammbaum?«, echote Mutter. »Aber du bist einer von ihnen.«
    »Möchtest du, dass ich mich darum bewerbe, meine Liebe?«, sagte mein Vater müde, legte seine Zeitung hin und starrte sie durch den oberen Teil seiner Brillengläser an.
    »Ja, natürlich. Würdest du nicht gern wieder nach Bristol ziehen? Weg von hier und all den ...« Selbst ohne aufzublicken spürte ich, wie sie mich ansah, bevor sie verstummte. Ich hatte dem Wortwechsel nur halb zugehört, aber als das Wort »Bristol« fiel, war ich ganz Ohr.
    »Was meint ihr damit, nach Bristol ziehen?«, sagte ich dümmlich. »Ihr meint, von hier weggehen?«
    »Ja, natürlich. Dein Vater könnte ja schlecht pendeln. Es ist eine schöne Stadt - in Clifton gibt es ein paar hübsche Geschäfte. Auch gute Schulen für dich.«
    »Aber wir würden niemanden kennen«, sagte ich. Die Panik stieg in mir auf wie Gallenflüssigkeit.
    »Ach, du wirst dich schnell mit jemandem anfreunden«, sagte Mutter obenhin, wobei sie vergaß, dass ich volle elf Jahre

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