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Seejungfrauen kuesst man nicht

Seejungfrauen kuesst man nicht

Titel: Seejungfrauen kuesst man nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
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gebraucht hatte, um die einzige Freundin zu finden, die ich hatte.
    »Was ist mit meinen Cellostunden?« Ich wusste, das würde bei meiner Mutter schwerer wiegen als so etwas Triviales wie Freundschaft. Ich hatte gerade Stufe sieben mit Auszeichnung abgeschlossen; meine Lehrerin war zufrieden mit mir und hatte sich viel Mühe gegeben, mir einen Platz in einem örtlichen Jugendorchester zu besorgen, das sich jeden Montagabend traf. Es war der Zeitpunkt, an dem man entweder aufhörte oder anfing, es ernst zu nehmen.
    Mutter zögerte. Das war verzwickt, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. »In Bristol wird es auch gute Lehrer geben. Es gibt bestimmt Schulen, die sich auf Musik spezialisieren. Wir würden durch den Umzug dein Cellospielen nicht gefährden. Mach dir deshalb keine Sorgen.« Sich einer von Mutters plötzlichen Leidenschaften entgegenzustellen war wie zu versuchen, den Kiefern eines Hais zu entkommen: Je mehr man dagegen ankämpfte, desto fester wurde der Biss.
    »Aber ich will nicht umziehen. Mir gefällt es hier.«
    »Wir können ja schlecht ohne dich gehen«, sagte Mutter.
    »Doch - ich könnte bei Frances bleiben.«
    Das ließ sie aus der Haut fahren. »Mach dich nicht lächerlich. Hier mag es zwar nicht so aufregend sein, aber wir sind zufällig deine Eltern. Ich nehme nicht an, dass dir je in den Sinn gekommen ist, dass alles, was hier geschieht, in deinem Interesse ist. Ich kann dir nicht annähernd erklären, welche Opfer schon für dein Glück erbracht worden sind.« Mutters Wangen waren puterrot, und sie war den Tränen nahe. Morgen würde sie eine Migräne haben, und es wäre alles meine Schuld.
    Vater intervenierte. »Dieser Streit ist akademisch. Ich habe mich noch nicht einmal um den Posten beworben, und wenn ich es täte, würde ich ihn nicht bekommen. Können wir das Thema als beendet ansehen?«
    An diesem Abend lag ich lange wach und machte mir Sorgen. Ich kannte meine Eltern: Wenn Mutter wollte, dass Vater sich bewarb, dann würde er es tun. Die Hoffnung, dass er keinen Erfolg haben würde, konnte ich nicht hegen. Er war mein Vater - wie konnte da irgendein anderer Kandidat bevorzugt werden? Kurz nach elf hörte ich Stimmen aus dem Schlafzimmer. Meine Mutter ließ die n Tür immer offen, damit sie das Telefon hören konnte, falls meine Granny über Nacht Opfer irgendeines medizinischen Notfalls werden sollte. Ich schlich mich auf den Treppenabsatz.
    »... hättest nicht vor Abigail mit den Opfern anfangen sollen. Was soll sie denn von diesem Ausbruch halten? Es war sehr unfair.«
    »Okay, okay. Ich bedaure das jetzt. Es ist mir einfach so rausgerutscht: Ich fand, dass sie uns gegenüber unfair war.«
    »Aber würdest du denn wirklich den ganzen Trubel eines Umzuges aushalten?« Das war Vater.
    »Ja. Dieser Ort ist mit so vielen Erinnerungen belastet. Es wäre schön, irgendwo neu anzufangen.«
    »Nicht auch glückliche Erinnerungen?«
    »Oh ja, Abigail und so weiter.«
    »Die Sache ist, Monica, dass ich nicht weiß, ob ich mit einer neuen Arbeit klarkäme. Ich vertrage Veränderungen nicht sehr gut.«
    »Aber hast du denn keinen Ehrgeiz?«
    »Du sprichst davon, als wäre es eine Tugend.«
    »Das ist es doch auch, bei einem Mann, oder? Bist du nicht frustriert, da festzusitzen, wo du bist, mit all den jungen Hüpfern, die dir bei der Beförderung vorgezogen werden?«
    »Ein bisschen, denke ich, aber ...«
    »Na dann.«
    »Wenn du wirklich willst, dass ich mich bewerbe, meine Liebe, werde ich es tun.«
    »Ich will nicht, dass du dich bewirbst. Ich will, dass du es willst.«
    »Ich werde mein Bestes versuchen, um es zu wollen.«
    Wie vorausgesehen hatte Mutter am nächsten Tag Migräne. Ich wusste es in dem Moment, als ich auf dem Heimweg von der Schule in die Sackgasse einbog. Ihre Schlafzimmervorhänge waren zugezogen - ein Zeichen so unmissverständlich wie die Quarantäneflagge auf einem Schiff. Als ich meine Tasche im Flur fallen ließ, rief sie die Treppe hinunter. »Abigail, kannst du mir etwas gefrorenes Gemüse bringen?«
    Ich stieg die Treppe hoch, die Eispackung in der Hand. Mutter lag im Dunkeln mit einem nassen Waschlappen auf der Stirn und einem Eimer am Bett. Also war es schlimm. Ihre Haut hatte die vertraute Graufärbung. Sie öffnete die zugekniffenen Augen ein bisschen, als ich mich näherte, und griff nach den Erbsen. Das Zimmer roch muffig und abgestanden, als wäre alle Luft erst vor kurzem ausgeatmet worden. Ich öffnete die Tür ein wenig und ließ einen Lichtkeil

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