Seejungfrauen kuesst man nicht
mir, wie bei den meisten aus meiner Klasse, die Überzeugung herausgebildet hatte, dass allein ich sie richtig verstand; dass sie mit dem Gedanken an mich persönlich geschrieben worden war. Es ärgerte mich, dass die Begeisterung meiner Mutter für ihr Mittwochabendhobby sich nicht auf die restliche Woche erstreckte - zu anderen Zeiten sah ich sie nie auch nur einen Blick auf ein Gedicht werfen. Das kam mir vor wie Heuchelei. Vater war während des Abendessens nervös und unruhig gewesen. Ich konnte sehen, wie er gedanklich in imaginäre Debatten mit dem Leiter des Vorstellungsgesprächs abschweifte. Selbst wenn er die Fragen selbst zusammenstellte, sah er völlig geschlagen aus, als er wieder in die Realität zurückkehrte.
Ich lag im Bett und las Mansfield Park, als ich hörte, wie sich die Tür des Arbeitszimmers öffnete, und dann Vaters langsame Schritte auf der Treppe. Er zögerte vor meiner Tür, bevor er mit einem Fingernagel leise klopfte, ein zaghaftes Trappeln, das noch andauerte, nachdem ich mehrmals »Herein« gerufen hatte. Das unterschied sich sehr von Mutters Vorgehen, die einmal laut klopfte und sofort hereinplatzte.
»Oh. gut«, sagte er und drückte sich in der Tür herum. »Ich dachte, du wärst vielleicht unten bei den Damen.« Er sah sich mein Buch an. »Aber ich sehe, du bist in einer prosaischeren Stimmung.« Ich nickte. »Wer ist denn heute Abend unterm Skalpell?«
»Tennyson«, sagte ich.
»Ah. In die Kiefer des Todes, In den Höllenschlund. Abigail, wirst du schrecklich unglücklich sein, wenn ich diese Stelle bekomme? Du darfst auch Ja sagen.«
Ich schwankte einen Moment und sagte dann: »Ich wäre glücklich für dich, aber unglücklich für mich.«
»Hmm«, sagte er. »Gute Antwort. Danke.« Er küsste mich auf den Scheitel und ging.
Am nächsten Morgen schien all seine Nervosität verflogen zu sein, und er sah fast fröhlich aus, als er frühstückte, Geschirrtücher als Servietten benutzend, um seinen Anzug vor Milchspritzern und Marmeladenflecken zu schützen.
»Ich bin froh, dass du nicht so nervös bist«, sagte Mutter, die ihn leicht überrascht beobachtete. »Ich dachte, du wärst in einem schrecklichen Zustand.«
In dem Moment wurde mir klar, wieso Vater mich am Abend zuvor befragt hatte. Er hatte seine Entscheidung gefällt, und ich war sicher, dass er, wenn er von Bristol nach Hause kam, die Stelle nicht haben würde und wir nicht umziehen würden. Und so war es dann auch. Ich erfuhr nie, ob er sich absichtlich schlecht präsentiert hatte, nicht gut genug gewesen war, die Stelle angeboten bekommen und abgelehnt hatte, oder ob er einfach nicht zu dem Bewerbungsgespräch gegangen war. Aber ich wusste, dass dies ein weiteres dieser Opfer war, die in meinem Namen erbracht wurden, auf die Mutter angespielt hatte.
Für Mutter, die nichts von unserem Gespräch wusste, war sein Scheitern natürlich ein Zeichen für zweierlei: die Gleichgültigkeit des Schicksals gegenüber ihren Bedürfnissen und Wünschen und für Vaters Unfähigkeit. Von da ab bat sie ihn nicht mehr, sich um eine Beförderung zu bemühen, nicht weil sie das zusätzliche Geld und Prestige nicht mehr wollte, sondern weil sie sich ihn nicht mehr als erfolgreich vorstellen konnte. Früher hatte sie den Leitern der Bewerbungsgespräche wegen ihres schlechten Geschmacks die Schuld gegeben; jetzt beschuldigte sie Vater, dass ihm die Qualitäten, welch mysteriöser Art sie auch immer waren, fehlten, nach denen sie suchten.
Seitdem habe ich mich oft gefragt, ob die Dinge vielleicht anders verlaufen wären, wenn ich selbstloser gewesen wäre. Wir wären vielleicht nach Bristol gezogen; Vater hätte sich als erfolgreicher Mann neu erfunden; Mutter wäre stolz oder wenigstens dankbar gewesen, vielleicht sogar glücklich; ich wäre aus der unmittelbaren Sphäre der Radleys weggezogen; ich hätte Anne Trevillions Party verpasst; ich wäre an diesem schrecklichen Nachmittag nicht allein zum Haus zurückgegangen; ich hätte nicht verloren, was ich vor so kurzem erst gefunden hatte.
20
Rache ist ein Gericht, das, wie Mutters Heilmittel gegen Migräne, am besten kalt serviert wird.
»Ich werde Mum bitten, zu uns zu ziehen.« Das warf Mutter ein paar Wochen später wie eine Granate auf den Frühstückstisch.
»Du wirst sie bitten?«, sagte Vater, dessen Tasse auf halbem Wege zum Mund zum Stillstand gekommen war.
»Nun, in Wahrheit habe ich sie schon gefragt.«
»Und was hat sie gesagt?«
»Sie hat Ja gesagt.«
»Oh.
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